Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Mit symbolischer Gewalt begann der Dreißigjährige Krieg
Vor 400 Jahren ereignete sich der zweite Prager Fenstersturz – und leitete eine Katastrophe für Europa ein
BONN/PRAG (KNA) - Wenigstens fielen sie einigermaßen weich, Graf Wilhelm Slawata, Graf Jaroslav Martinitz und ihr Sekretär Philipp Fabricius. Wann stürzt man schon aus dem Fenster, 17 Meter tief, und lebt danach noch viele Jahre weiter? Was war das denn gerade, werden sich die drei habsburgischen Beamten gedacht haben, als sie sich, fast unverletzt, aus dem Morast aufrappelten? Das, das war der sogenannte zweite Prager Fenstersturz und, so weiß man heute, der Beginn eines 30 Jahre dauernden Krieges im Herzen Europas.
Historische Inszenierung
Was vor dem geistigen Auge wie eine spontane Empörung abläuft – ob rechtlicher Benachteiligung erboste Politiker vergessen sich in einem einzigen Moment für eine blutige Tat – war tatsächlich eine spektakuläre historische Inszenierung. Die „Defenestration“, also das Stoßen der drei katholischen Beamten aus einem Fenster der Prager Burg, war eine Reminiszenz an den ersten Prager Fenstersturz, der sich fast genau zweihundert Jahre zuvor ereignet hatte: 1419, als Auftakt der Hussitenkriege. Damals stürmten Anhänger des 1415 als Ketzer hingerichteten Reformatoren Jan Hus das Neustädter Rathaus und warfen zehn Beamte aus dem Fenster.
Die Botschaft freilich war dieselbe: Wir lassen uns eure Bevormundung nicht gefallen! Was war geschehen? Der Habsburger Kaiser und König von Böhmen Rudolf II. (15761612) hatte den Protestanten im Majestätsbrief von 1609 Religionsfreiheit zugestanden. Doch sein Nachfolger Ferdinand (ab 1617 böhmischer König, ab 1619 Kaiser), vollzog einen Rollback. Er wollte Böhmen rekatholisieren und überhaupt die Königsmacht gegenüber den Ständen stärken.
Das Fass zum Überlaufen brachten der Abriss einer evangelischen Kirche in Klostergrab und die Schließung einer weiteren in Braunau. Gerüchte über ein geplantes gewaltsames Vorgehen gegen die Protestanten machten die Runde. Es kam zu Tumulten in der Ständeversammlung. Man fürchtete den Verlust des evangelischen Glaubens, von Privilegien und nationaler Autonomie. Am Morgen des 23. Mai 1618, vor 400 Jahren, zogen rund 200 Vertreter der protestantischen Stände unter Führung von Graf Heinrich Matthias von Thurn zur Prager Burg und stürmten die Kanzlei. Ein improvisierter Schauprozess mit heftigen Wortgefechten folgte. Schon riefen die katholischen Beamten nach ihrem Beichtvater, da wurde das Fenster geöffnet, und ab ging es in den Burggraben. Wie durch ein Wunder überlebten alle drei; nur einer von ihnen, Graf Slawata, wurde am Kopf verletzt.
Ein hübsches Adelsprädikat
Ein Wunder? Ein ausreichend großer Kompost- oder Misthaufen im Graben? Oder die Fürsprache von „Jesus! Maria!“, die Graf Martinitz noch eben anrufen konnte? Fest steht, dass die drei ihren buchstäblichen Fall im Nachhinein als Heldenstück katholisch-habsburgischer Standhaftigkeit darstellten. Und tatsächlich durften sie sich eine Belohnung für ihre Treue erhoffen. Fabricius erhielt 1623 das hübsche Adelsprädikat „von Hohenfall“.
Die Habsburger konnten den Akt des Fenstersturzes nicht ungestraft hinnehmen. Der Verlust Böhmens und seiner Nebenländer drohte – und erstmals seit dem Kölner Reformationsversuch von 1543 auch wieder eine protestantische Mehrheit im Kurfürstenkolleg und damit eine protestantische Kaiserwahl.
Die böhmischen Stände setzten auf Unterstützung des 1608 gegründeten protestantischen Fürstenbündnisses, der Union – doch die zauderte und kniff. Der protestantische Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz hatte die Krone Böhmens angenommen, die ihm die Stände angetragen hatten. Doch ohne Unterstützung brach sein „Winterkönigtum“bald zusammen. In der Schlacht am Weißen Berg vor Prag wurde er vom Heer der Katholischen Liga vernichtend geschlagen.
Das Unheil nimmt seinen Lauf
Hier hätte dieser sehr regionale Krieg zu Ende sein können, ohne 30 Jahre zu dauern. Doch Kaiser Ferdinand II. hatte Bayern territoriale Versprechen gemacht, die nun einzulösen waren. Zudem hatte er buchstäblich Blut geleckt und sah sein Ziel einer Rekatholisierung greifbar nahe. Auf der anderen Seite sahen die protestantischen Fürsten nun das Pendel sich zur falschen Seite neigen. Erst jetzt griffen in- und ausländische Mächte ins Geschehen ein, mitsamt ihren je eigenen Interessen. Die „Reiter der Apokalypse“gaben dem Pferd die Sporen.