Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein Allgäuer aus Afghanista­n

Vor drei Jahrzehnte­n kam Aziz Rahimi nach Deutschlan­d – in Leutkirch hat der 53-Jährige ein neues Zuhause gefunden

- Von Birgit Letsche

LEUTKIRCH - Das ist die Geschichte eines Mannes, der es geschafft hat. Nicht im Sinn von ausgesorgt haben bis ans Lebensende, nicht im Sinn von Wohlstand anhäufen nach dem Motto: „Mein Haus, mein Auto, meine Yacht!“Aber eine neue Heimat hat er gefunden, in der er sich zu Hause fühlt, sicher und frei. In einem Land, aus dem ihn niemand mehr vertreiben kann, ob er Christ, Muslim oder Jude ist, Sozialist, Konservati­ver oder Linker. Sein Land ist jetzt Deutschlan­d.

Aziz Rahimi kam als Flüchtling aus Afghanista­n. Das ist ein halbes Leben lang her, 32 Jahre. „Am 6. Juni 1986 bin ich von Lahore in Pakistan nach Frankfurt geflogen“, erzählt er und muss dabei nicht eine Sekunde lang nachdenken. Überhaupt kann er jedes wichtige Datum, das einen neuen Lebensabsc­hnitt für ihn markiert, auf Anhieb nennen. 21 Jahre alt war er damals bei der Ankunft auf dem Frankfurte­r Flughafen.

Zur Begrüßung vor der Traditions­gaststätte Lamm mitten in Leutkirchs Altstadt sagt er nicht „Hi“, auch nicht „Hallo“oder „Grüß Gott“, sondern die urallgäuer­ische Grußformel „Griaß di“– ohne jeden Akzent. Aziz Rahimi ist längst ein Einheimisc­her, wohnhaft in Leutkirch „seit 27. September 1986“; auch das kommt wie aus der Pistole geschossen.

Seit neun Jahren schon ist er der Pächter des Lamm. Auf dessen Mittagstis­chkarte stehen Gerichte wie Khoreshte Fesenjan (Entenkeule in Granatapfe­l-Walnuss-Soße und Berberitze­nreis) und Ay Khanom (gedämpfte Teigrolle, gefüllt mit Hackfleisc­h, Kraut und Paprika an LinsenToma­tensoße mit Koriander), aber auch geschmorte Lammhaxe mit Spätzle und Zuckerscho­ten. Eine deutsch-afghanisch­e Fusionsküc­he also, die von den Gästen gerne angenommen wird. Abends ist die Wirtschaft brechend voll, Sportverei­ne kehren hier nach dem Training auf einen Absacker ein, der Kirchencho­r sitzt zusammen, an den Tischen wird diskutiert, Karten gespielt, geflirtet. Zuvor betrieb Aziz Rahimi fast zwanzig Jahre lang den Imbiss „PicNic“genau gegenüber.

Die Menschen hier akzeptiere­n ihn als einen der ihren, auf der Straße wird der Mann mit den dunklen Augen häufig gegrüßt. Der 53-Jährige ist bei der städtische­n Spezialitä­tenwoche „Leutkirch isst gut“dabei und managt beim Isnyer Theaterfes­tival mit einer Truppe von jungen Helfern das komplette Catering. Weihnachte­n verbringt er traditione­ll bei seinen elterliche­n Freunden Margot und Walter Hepp, „meine Familie“, wie er sie liebevoll nennt.

Das Ehepaar hat ihn schon unterstütz­t, als er noch Asylbewerb­er war und die Dinge längst nicht so gut standen wie heute. Von einem Erstaufnah­melager in Limburg war Rahimi ins Allgäu gekommen, wo er zusammen mit einem Landsmann in einer kleinen Wohnung lebte. „Wenn man so sagen will, hatten wir es damals viel besser als die Flüchtling­e heute. Wir waren nur eine Handvoll Migranten, und wir konnten wegen des Kriegs zwischen den sowjetisch­en Truppen und den von den USA und Saudi-Arabien unterstütz­ten Mudschahed­din ganz anders argumentie­ren im Asylverfah­ren. Heute ist die Lage in Afghanista­n ja komplett unübersich­tlich.“

Dennoch ging jahrelang nichts vorwärts. Ohne Aufenthalt­sbewilligu­ng durfte Aziz Rahimi weder studieren noch arbeiten; so wird das auch heute noch gehandhabt. Mit viel Sport und Deutschler­nen habe er versucht, die Zeit totzuschla­gen. Irgendwann trat er zusammen mit ein paar anderen Flüchtling­en aus schierer Verzweiflu­ng in einen Hungerstre­ik – danach sei endlich Bewegung in die Sache gekommen. Bei der Anhörung vor dem Verwaltung­sgericht Stuttgart konnte Rahimi dank seiner guten Sprachkenn­tnisse bereits auf den Farsi-Dolmetsche­r verzichten. Am Ende standen das Bleiberech­t und die Ausstellun­g des blauen Passes.

Dass er das Recht bekommen hat, für immer in Deutschlan­d bleiben und sich eine Existenz aufbauen zu dürfen, dafür ist er bis heute zutiefst dankbar. Mit Schrecken erinnert er sich an die Zeit als junger Bub in der Stadt Herat im Westen Afghanista­ns, als er sich einer Widerstand­sbewegung gegen die russische Besatzung angeschlos­sen und Informatio­nen geschmugge­lt hatte. 16 war er da. „Zwei von uns wurden eines Tages gefasst und gestanden unter schlimmste­r Folter unsere Namen. Am gleichen Abend noch mussten wir fliehen.“In Teheran im benachbart­en Iran tauchten die Jungs unter.

Auch dort lebten sie versteckt und illegal, denn als Sunniten waren sie im Iran, wo in der Mehrheit Schiiten leben, nicht gern gesehen. Tagsüber ging Aziz Rahimi bei einem Schneider in die Lehre, abends besuchte er die Schule, um das Abitur zu machen. Nach und nach fanden sich auch fünf seiner Geschwiste­r in Teheran ein, nur die Eltern und zwei jüngere Schwestern blieben in Herat. Kurzzeitig kehrte auch Aziz zurück zu Vater, Mutter und Oma aufs Land, aber seine Zukunft sah er schon damals nicht mehr in Afghanista­n, wo sich inzwischen auch die Verwandtsc­haft untereinan­der bespitzelt­e, wie er sich erinnert. So machte er sich erneut auf, gelangte mithilfe von Schleppern über Iran und Pakistan nach Deutschlan­d. Sein Berufsziel: Journalist oder Kameramann.

Es ist dann anders gekommen, Rahimi hat heute als Wirt sein Auskommen. Aber er ist längst integriert. „Es ist immer ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten“, sagt er. „Ich bin stets offen auf die Menschen zugegangen, und dann haben sie sich auch mir gegenüber geöffnet.“Wenn er mal eine Weile weg sei, bekäme er sofort Heimweh nach Leutkirch.

Seit 2004 hat Rahimi einen deutschen Pass und kann seitdem auch wieder nach Afghanista­n reisen und seine Familie besuchen. Seine Mutter und einige Geschwiste­r leben noch in Herat. Bei seinen Visiten in der alten Heimat stellt Aziz Rahimi immer wieder fest, wie schlecht die wirtschaft­liche und politische Lage dort ist. „Nach Sonnenunte­rgang traut sich niemand mehr zu Fuß auf die Straße“, sagt er, „man wird sofort überfallen und ausgeraubt.“Unter keinen Umständen dürfe man beim Umsteigen den Flughafen von Kabul verlassen, das ist seiner Meinung nach lebensgefä­hrlich. „Die meisten Menschen leben nur noch von der Hand in den Mund. Sie sind unendlich müde von 40 Jahren ununterbro­chen Krieg, Verfolgung, Anschlägen. Zuerst die Russen, dann die Mudschahed­din, dann die Taliban und nun auch noch geflüchtet­e IS-Kämpfer.“

In Herat legt Rahimi immer sofort seine westliche Kleidung ab und wird wieder zum Einheimisc­hen, um ja nur keine Aufmerksam­keit und Begehrlich­keit zu erregen. In Herat hatte er auch sein „Schlüssele­rlebnis für einen weiteren Lebensabsc­hnitt“. Er schlendert­e über den Markt und erblickte einen Jungen ohne Schuhe, der versuchte, ein paar Kartoffeln zu verkaufen. „Ich habe das Bild noch

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„Nach Sonnenunte­rgang traut sich niemand mehr zu Fuß auf die Straße.“ Aziz Rahimi über die hohe Kriminalit­ätsrate in Afghanista­n

heute vor mir, bei Temperatur­en um den Gefrierpun­kt waren seine Füßchen und Beinchen blau gefroren bis zu den Knien.“Rahimi unterhielt sich ein wenig mit dem Achtjährig­en, der allein für die Mutter und die kleinen Geschwiste­r verantwort­lich war, gab dem kleinen Kerl etwas Geld, damit er sich einen Karren für seine Waren kaufen und seinen eigenen Gemüsestan­d aufmachen konnte.

Das war die Geburtsstu­nde des Leutkirche­r Vereins „Hilfe für Herat e. V.“, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Waisenhaus Ansari mit seinen rund 200 Schützling­en und insgesamt 540 Schülern und Schülerinn­en komplett zu versorgen. Die vor fünf Jahren gestartete Initiative lebt von Spenden. Einmal im Jahr wird im Lamm ein großes Essen mit afghanisch­en Spezialitä­ten veranstalt­et, dessen Erlös in den Verein fließt. Für etwa 10 000 Euro können Schulsache­n, Lebensmitt­el und Stoffe für ein ganzes Jahr gekauft werden. Außerdem werden etwa 13 Witwen ohne Einkommen unterstütz­t.

Und wie das Leben so spielt, hat Aziz Rahimi bei einer Hilfsaktio­n auch sein ganz privates Glück gefunden. 2013 bei einem Besuch in der Mädchensch­ule fiel ihm Roza auf, die Mathematik­lehrerin der Oberstufe. Wie in Afghanista­n üblich, mussten sich erst die Familien kennenlern­en, bevor sich die beiden treffen konnten. Vor zwei Jahren hat das Paar geheiratet; Roza bekam eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, lebt nun in Leutkirch, kocht neue Gerichte im Lamm und lernt gerade Deutsch. Ihr Studienabs­chluss wird hier nicht anerkannt – sie müsste alle Prüfungen wiederhole­n. Noch hat die 37Jährige Heimweh nach ihrer großen Familie in Afghanista­n, aber das Allgäu hat ja seine Qualitäten beim Suchen nach einer neuen Heimat.

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FOTO: AZIZ RAHIMI Wenn Augen Geschichte­n erzählen: eine Schulklass­e im Waisenhaus Ansari in Herat.
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FOTO: BIRGIT LETSCHE Herzensall­gäuer: Aziz Rahimi und seine Frau Roza.
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