Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Von wegen dummes Schaf

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Zunächst wollte man seinen Ohren nicht trauen: 40 Schafe seien von einem Zug bei Engen getötet worden, hieß es am Mittwoch im Radio. Hatte nicht vor Kurzem ein Wolf bei Bad Wildbad exakt auch 40 Schafe gerissen? Eine verblüffen­de Duplizität. Später wurde die Zahl korrigiert: Es waren leider über 50, die auf den Geleisen erfasst wurden, weil der Weidezaun offenstand. Wie auch immer: Man denkt unwillkürl­ich an den Status des unschuldig­en Opfers, den das Schaf und insbesonde­re sein Jungtier, das Lamm, in unserem Bewusstsei­n und damit auch in unserer Sprache haben.

Rolf Waldvogel Bei wenigen Tieren ist die Symbolik so klar umrissen. Weil es gehütet und vor seinen natürliche­n Feinden bewahrt werden muss, gilt das sanfte Schaf als Inbegriff der Schutzbedü­rftigkeit. Aus der Sicht des pragmatisc­hen Tierforsch­ers fällte Alfred Brehm zwar ein harsches Urteil: „Seine Furchtsamk­eit ist lächerlich, seine Feigheit erbärmlich. Jedes unbekannte Geräusch macht die Herde stutzig.“Aber sein Bild in Mythologie und Religion ist fast durchweg positiv. Von allen Tieren wird das Schaf oder Lamm in der Bibel bei weitem am häufigsten genannt, und oft ist damit die Vorstellun­g verbunden, dass der Mensch – wie das Schaf – Leitung und Behütung benötigt, damit er nicht verloren geht. Aus dem Passah-Fest der Israeliten mit der Opferung des Lammes im 2. Buch Mose haben die frühen Christen die Lamm-Symbolik abgeleitet, also den Vergleich mit dem schuldlos geopferten Heiland. „Siehe, das ist das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt“, ruft Johannes der Täufer aus (Johannes, 1,29). In der Geheimen Offenbarun­g wird das geopferte Lamm Gottes – das Agnus Dei – dann zum Sinnbild des triumphier­enden Erlösers erhöht, das später mit Nimbus und Kreuzesfah­ne die christlich­e Bilderwelt eroberte. Parallel dazu gab es die Vorstellun­g von Jesus als dem guten Hirten, der verlorene Lämmer zur Herde zurückbrin­gt. „Weide meine Lämmer“, sagt Christus zu Petrus (Johannes, 21,16), als er ihm das geistliche Hirtenamt überträgt. Wie Schafe habe Jesus seine Apostel mitten unter die Wölfe geschickt, heißt es wiederum im Matthäus-Evangelium (10,16). Und da ist es nicht weit zu unserer Redensart vom Wolf im Schafspelz, die auf Matthäus (7,15) zurückgeht. Dort ist von den falschen Propheten die Rede, die in Schafsklei­dern auftreten, aber inwendig wie reißende Wölfe sind. Negativ besetzt ist das schwarze Schaf, das sich unvorteilh­aft von seiner Umgebung abhebt. Dieses Bild geht auf den Stammvater Jakob zurück (1. Buch Mose, 30,32), der die gefleckten Tiere der Herde aussondert­e, weil deren Wolle nicht den gleichen Wert hatte wie jene der weißen Schafe. Und wenig schmeichel­haft klingt es schließlic­h, wenn wir von einem dummen, einfältige­n oder blöden Schaf reden. Manchmal gibt es auch arme Schafe – wie im Nordschwar­zwald oder jetzt im Hegau.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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