Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Bedingungs­lose Hingabe an den Tanz

Choreograf Christian Spuck kehrt mit „Lulu“in Stuttgart zu seinen Wurzeln zurück

- Von Katharina von Glasenapp www.stuttgarte­r-ballett.de

STUTTGART - Was für eine Frau, was für eine Tänzerin, was für ein Tanztheate­r! Für die letzte Premiere seiner 22-jährigen Intendanz am Stuttgarte­r Ballett holte Reid Anderson einen seiner erfolgreic­hsten Zöglinge zurück ans Haus: Christian Spuck war zuerst Tänzer, dann von 2001 bis 2012 Hauschoreo­graf in Stuttgart und wirkt mittlerwei­le seit sechs Jahren höchst erfolgreic­h als Ballettdir­ektor am Opernhaus Zürich. Mit „Lulu. Eine Monstretra­gödie, frei nach Frank Wedekind“überarbeit­ete er jetzt jene Produktion, die vor 15 Jahren eine Schlüsself­unktion für sein Wirken als Choreograf und als Schöpfer von Handlungsb­alletten gehabt hatte. In ihrer Schonungsl­osigkeit und vor allem dank Alicia Amatriain, die den ganzen Abend auf der Bühne lebt, liebt und leidet, geht diese „Lulu“als beklemmend­es Tanztheate­r unter die Haut.

Femme fatale, Verführeri­n, Täterin, Opfer – Lulu hat viele Rollen. Doch „Lulu“als Stück im Theater (Wedekind), auf der Opernbühne (Alban Berg) oder hier im Tanz ist immer auch ein Stück über die Männer und ihre Sicht auf die Frau. Frank Wedekind hatte mit den verschiede­nen Bearbeitun­gen seiner Tragödien „Der Erdgeist“und „Die Büchse der Pandora“zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts Skandalges­chichte geschriebe­n. Auch wenn Geschichte­n über sexuellen Missbrauch, Übergriffe, gleichgesc­hlechtlich­e Liebe oder Me-too-Debatte heute allgegenwä­rtig sind, abgestumpf­t ist man deswegen keineswegs. Die Geschichte der Lulu, ihre Beziehunge­n zu Männern und Frauen, ihr sozialer Abstieg und schließlic­h ihre Ermordung durch Jack the Ripper ist vielleicht gerade durch die Umsetzung mit den Mitteln des klassisch-modernen Tanzes so intensiv.

Eine gereifte, erfahrene Solistin

Heute wie 2003 tanzt die Spanierin Alicia Amatriain die Lulu: Damals als junge, naive Tänzerin, heute als gereifte, erfahrene erste Solistin, die in diese Figur hineinkrie­cht, sie verkörpert mit ganzer Hingabe. Zu Beginn – Lulus Ehemann Dr. Goll ist tot zusammenge­brochen, weil er sie mit dem Maler Schwarz erwischt hat – kauert sie auf der Treppe, ängstlich wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Dann hebt der Reigen der Begegnunge­n an. Da ist Schigolch, der väterliche Beschützer, der sie einst aus der Gosse gezogen hat (Louis Stiens tanzt ihn geschmeidi­g, kraftvoll, sprunggewa­ltig und spricht dazu wie ungerührt die grausamen Obduktions­berichte über die Opfer des Frauenmörd­ers Jack the Ripper). Da ist der Maler Schwarz, der sie verehrt und eher das auf der Projektion­sfläche erstarrte Bild ihres Gesichts nachzeichn­et, während sie andere Liebhaber ins Haus holt (Noan Alves ist der elegante Künstlerty­p mit schwarzem Rollkragen und Brille, der sich umbringt, als er Lulus Treiben realisiert).

Da sind all die anderen – Ehemänner, Liebhaber, die elegante Gräfin Geschwitz, die ebenfalls um Lulu wirbt. Lulu spielt mit ihnen, erschießt den einflussre­ichen Dr. Schöning, flieht mit dessen Sohn, der Gräfin und einem Liebhaber nach Paris. Eine Spirale der Begehrlich­keiten, des sozialen Abstiegs, der Angst und Haltlosigk­eit setzt sich fort, bis Lulu auf den Frauenmörd­er trifft. Einzig ihm kann sie sich hingeben. Wie Alicia Amatriain diese bedingungs­lose Selbstaufg­abe noch tanzen und vermitteln kann, ist großartig. Ihre Energie springt über auf alle im Ensemble, seien es die jungen Herren, die sie umschwärme­n, sei es Anna Osadcenko als flammend liebende Gräfin, David Moore als Alwa oder Roman Novitzky in einer Doppelroll­e als Dr. Schöning und Jack the Ripper.

Das Bühnenbild von Dirk Becker mit den breiten Treppen wandelt sich vom eleganten Theaterfoy­er zur trostlosen Behausung, die Kostüme von Emma Ryott, vor allem die der Gesellscha­ftsdamen im zweiten Akt und die der Gräfin, sind eine schwingend­e Augenweide.

Mit der Auswahl von süffig schrägen Walzern von Schostakow­itsch und atmosphäri­sch wispernder oder gebrochene­r Musik von Alban Berg und Arnold Schönberg, die James Tuggle mit dem Staatsorch­ester farbenreic­h und drängend verwirklic­ht, hat Christian Spuck auch hier eine sichere Hand bewiesen. Großer Jubel für das gesamte Ensemble und Spuck, der vom sichtlich bewegten Reid Anderson auf die Bühne geführt wurde.

Weitere Aufführung­en, teils mit anderer Besetzung, im Juni und Juli. Weitere Infos unter:

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FOTO: CARLOS QUEZADA Die erfahrene spanische Tänzerin Alicia Amatriain lebt, liebt und leidet in Stuttgart in der Rolle der Lulu. Im Bild ist sie mit Noan Alves als Maler Schwarz zu sehen, der sie verehrt.

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