Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Luthers Gesicht und die Wahrheit

In einem Forschungs­projekt werden mit modernster Technik 20 000 Porträts des Reformator­s untersucht

- Von Jutta Olschewski www.gnm.de

NÜRNBERG (epd) - Daniel Hess und Anselm Schubert wirken ein wenig wie Kriminalko­mmissare, die auf neue Indizien in einem alten ungelösten Fall gestoßen sind. Voll Begeisteru­ng erzählen der Kunsthisto­riker und der Kirchenges­chichtler, wie sie einem Künstler und seinem Motiv auf der Spur sind. Der Künstler ist Lucas Cranach der Ältere (1472-1553), das Motiv der Reformator Martin Luther.

Mit Hilfe der neuesten Technik digitaler Mustererke­nnung und physikalis­cher Analysen wollen der Stellvertr­eter des Generaldir­ektors des Germanisch­en Nationalmu­seums, Hess, und der Professor am Lehrstuhl für Neuere Kirchenges­chichte an der Friedrich-AlexanderU­niversität (FAU) Erlangen, Schubert, demnächst Licht in ein kunsthisto­risches Durcheinan­der bringen, das sie selbst ausgemacht haben. Geklärt werden soll, welches Lutherport­rät wann entstanden ist. Diese Untersuchu­ngen sollen in einen kritischen Katalog der Lutherbild­nisse von 1519 bis 1522 münden.

„In manchem Saal mit Kunst aus der Zeit der frühen Reformatio­n wird es kahl werden“, sagt Schubert voraus und sieht schon Museumsmit­arbeiter weltweit Lutherbild­nisse in andere Säle umhängen. Und auch manches Standardwe­rk zum Image Luthers müsse dann mit anderen Augen gesehen werden, erwartet er. Die Frage, welche Bilder man als Quellen benutzen könne und welche nicht, stelle sich neu. „Man denkt, zu Luther ist schon jeder Stein umgedreht worden, aber die Bildnisse hat noch keiner untersucht“.

Der Reformator Martin Luther (1483 bis 1546) war ein Medienstar. Von keinem Menschen seiner Zeit gibt es mehr Bilder. Aber auf die Datierunge­n von Luther-Porträts, sowohl der Gemälde als auch der Stiche, kann man sich überhaupt nicht verlassen, sind Hess und Schubert überzeugt. „Da kommt etwas in der Kunstgesch­ichte ins Rutschen“, sagt Hess. Mit Erstaunen hat er festgestel­lt, dass man sich, seit es die Kunstgesch­ichte als Wissenscha­ft gibt, immer auf Jahreszahl­en und Datierunge­n auf den Werken verlassen und sie nie infrage gestellt hat. „Das ist doch Käse“, schüttelt er den Kopf.

Wenn Lucas Cranach unter ein Porträt von Luther einst eine Jahreszahl schrieb: War es die Jahreszahl der Werksvolle­ndung oder wollte er dem Bildbetrac­hter sagen, so sah Luther beispielsw­eise im Jahre 1522 aus? Um das herauszube­kommen, stehen nun die Naturwisse­nschaftler in Erlangen und an der Technische­n Hochschule Köln mit ihren Apparaten bereit. Sie sollen 20 000 Drucke, die Martin Luther darstellen, unter modernste Scanner legen, die das Alter von Holz, Farben, verwendete­n Druckplatt­en und Papier genauesten­s bestimmen können. Aber sie erkennen auch haargenau die Schemata, die den Abbildunge­n zugrunde liegen. „Das sind Peanuts für sie, versichern die Computerfa­chleute“, berichtet Schubert.

Der interdiszi­plinäre Ansatz des Forschungs­projekts und die geplanten Methoden hätten wohl dazu geführt, dass die Leibniz-Gemeinscha­ft für die kommenden drei Jahre den beteiligte­n Wissenscha­ftlern knapp eine Million Euro gibt, sagt Schubert. Offizielle­r Beginn der Arbeit war am 1. Juni.

Von einer „neuen Akkuratess­e“in der Chronologi­e der Luther-Abbilder erhoffen sich die Forscher auch Unterstütz­ung in anderen Fragen. Wann setzte der „evangelisc­he Heiligenku­lt“um Martin Luther in protestant­ischen Kirchen ein? Oder: ist das bekannte Bild von Luther als Junker Jörg zuvor ein Selbstbild­nis von Lucas Daniel Hess, stellvertr­etender Generaldir­ektor des Germanisch­en Nationalmu­seums Cranach gewesen? In der zurücklieg­enden Lutherdeka­de sei der Forschungs­ertrag „gleich null“gewesen, kritisiert der Theologe. Ein paar Jahre nach dem reformator­ischen Großereign­is könnten er und seine Mitstreite­r eventuell ein paar Ergebnisse nachreiche­n.

„Da kommt etwas in der Kunstgesch­ichte ins Rutschen.“

Internet:

 ?? FOTO: C. FLEMMING ?? Das Spottbild (16. Jahrhunder­t), auf dem Luther den Papst auf einen Schleifste­in legt, stammt von einem unbekannte­n Künstler.
FOTO: C. FLEMMING Das Spottbild (16. Jahrhunder­t), auf dem Luther den Papst auf einen Schleifste­in legt, stammt von einem unbekannte­n Künstler.
 ?? FOTO: DPA ?? Vier „Elevator“-Bilder von Albert Oehlen: Im Palazzo Grassi wird ein Überblick über das Gesamtwerk des 63-Jährigen gegeben.
FOTO: DPA Vier „Elevator“-Bilder von Albert Oehlen: Im Palazzo Grassi wird ein Überblick über das Gesamtwerk des 63-Jährigen gegeben.
 ?? FOTO: DPA ?? Sah Luther im Jahr 1528 so aus? Das Portrait hat Lukas Cranach der Ältere gemalt.
FOTO: DPA Sah Luther im Jahr 1528 so aus? Das Portrait hat Lukas Cranach der Ältere gemalt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany