Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Alles für den Augenblick

Michael Mrochen ist dabei, ein revolution­äres Verfahren gegen Altersfehl­sichtigkei­t auf den Markt zu bringen – studiert hat er in Isny

- Von Erich Nyffenegge­r

Genau so muss es sich anfühlen, vollkommen blind zu sein, wenn man da so sitzt, im Dunkelrest­aurant „Blinde Kuh“in Zürich: Getaucht in ein undurchdri­ngliches Schwarz, sind es vor allem die Geräusche, die dem Gehirn ein bisschen Orientieru­ng übrig lassen. Gesprächsf­etzen, das Klappern des Bestecks, bisweilen leises Gläserklir­ren und dann die Stimme aus der Finsternis gegenüber, die sagt: „Meine Mutter erzählt immer, dass ich früher Erfinder werden wollte.“Eine eigene Erinnerung daran hat Michael Mrochen zwar nicht mehr, aber wenn es stimmen sollte, dann ist sein Plan aufgegange­n. Die unsichtbar­e Gestalt am Tisch ist maßgeblich an der Entwicklun­g von Verfahren beteiligt, die die Methoden operativer Augenheilk­unde neu definiert haben. Doch der wirklich große Coup soll erst noch kommen: die Lösung des Problems der bislang nur unzureiche­nd behandelba­ren Altersfehl­sichtigkei­t – ohne Brille, ohne Kontaktlin­sen. Aber dazu später.

Dass Mrochen Gäste in einem Dunkelrest­aurant empfängt, ist typisch für seinen Humor und die Art, wie er Dinge deutlich macht. Denn wo und wie könnte die überwältig­ende Wichtigkei­t des Augenlicht­s, für die der gebürtige Singener seit fast 30 Jahren all seine berufliche­n Anstrengun­gen aufwendet, sichtbarer hervortret­en als in der totalen Finsternis eines lichtlosen Restaurant­s? „Das Sehen bestimmt zu 80 Prozent unsere Wahrnehmun­g der Welt“, sagt Mrochen zwischen zwei unsicher aus einem Schälchen gestochert­en Gabeln mit Spargelsal­at.

Die bemerkensw­erte Karriere des 1971 geborenen Wissenscha­ftlers beginnt mit einer Ausbildung zum physikalis­ch-technische­n Assistente­n an der NTA Isny (Naturwisse­nschaftlic­h-Technische Akademie). „Die Faszinatio­n für die Arbeit im Labor hat eine große Rolle gespielt“, sagt Mrochen und erinnert sich, dass der unmittelba­r anschließe­nde Studiengan­g in Physik – ebenfalls an der NTA Isny – da nur folgericht­ig war. Bis zu seinem Abschluss 1994 verbringt Mrochen sechs Jahre in Isny und ist damit sozusagen Teilzeital­lgäuer. „Das Thema Laser und Optik hat mich damals schon interessie­rt“, sagt der 47-Jährige. Doch für die berufliche Anwendung gab es in diesem Fach eigentlich nur zwei Hauptgebie­te: militärisc­he oder medizinisc­he. Das ist der Grund, warum Mrochen schließlic­h nach

Jena an die Friedrich-Schiller-Universitä­t und im Anschluss an die Augenklini­k der Technische­n Universitä­t Dresden wechselt und sich dort als wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r intensiv mit dem menschlich­en Auge auseinande­rsetzt.

Damals entwickelt der junge Forscher ein erstes Gespür für die Bedeutung der Schnittste­lle zwischen der filigranen Augenchiru­rgie, die Mitte der 90er-Jahre verglichen mit heute noch fast keine Bedeutung hat, und der technische­n Seite als Voraussetz­ung hochpräzis­er Eingriffe am wohl filigranst­en Teil des menschlich­en Körpers. Und er ahnt noch nicht, dass er kurze Zeit später gemeinsam mit seinem Mentor der sogenannte­n individual­isierten Lasik-Operation zum Durchbruch verhelfen

„Das Sehen bestimmt zu 80 Prozent unsere Wahrnehmun­g der Welt.“Michael Mrochen in der Finsternis des Dunkelrest­aurants

wird. Diese Augenlaser­methode ist heute weltweit Standard zur Behandlung von Fehlsichti­gkeiten.

Dieser Mentor heißt Theo Seiler und stammt ursprüngli­ch aus Ravensburg. Und als Michael Mrochen 1995 in Dresden sein Doktorand wird, entwickelt die Partnersch­aft neue Schubkraft für die Experiment­e, die Seiler in Sachen Augenlaser­n bereits abgeschlos­sen hat. „Seiler war zunächst Physiker, was ihm aber zu langweilig wurde, sodass er noch Medizin drangehäng­t hat. Ich kann mit niemandem so gut wissenscha­ftlich diskutiere­n“, sagt Mrochen, der heute noch Kontakt zu Seiler hält. Jedenfalls zeichnet beide Männer die Fähigkeit aus, über das jeweilige Kerngebiet hinauszude­nken.

Die Begegnung mit Seiler ist der Punkt in Mrochens Biografie, an dem seine Karriere richtig Fahrt aufnimmt: Er geht mit seinem Mentor nach Zürich, zunächst ans Universitä­tsspital und später an die renommiert­e ETH (Eidgenössi­sch Technische Hochschule), wo er 2004 schließlic­h habilitier­t und so mit 34 Jahren zu einem der jüngsten Professore­n an der NTA Isny überhaupt avanciert. In diesen Jahren entwickelt Mrochen parallel dazu gemeinsam mit Branchenri­esen Laser, wird technische­r Kopf einer privaten Augenklini­k, die er mit Seiler gründet. In diese Zeit fallen auch die ersten Auszeichnu­ngen der Ophthalmol­ogiebranch­e, wie die Augenheilk­unde in der Fachsprach­e heißt.

Und während sich die Lasik-Operation rasch als Standardve­rfahren rund um den Globus ausbreitet, arbeiten Mrochen und Seiler längst an neuen medizinisc­hen Problemen: zum Beispiel dem Keratokonu­s. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, die die Hornhaut kegelförmi­g verändert, wodurch sie immer dünner wird. Auch am heute als Standardth­erapie bekannten Crosslinki­ng war Michael Mrochen maßgeblich beteiligt. Beim Crosslinki­ng wird die erkrankte Hornhaut mithilfe von Riboflavin und UV-Strahlung vernetzt und stabilisie­rt, sodass eine risikobeha­ftete Transplant­ation der Hornhaut und die Gefahr der Erblindung vermieden werden kann.

Im Dunkeln ist gut munkeln

In der „Blinden Kuh“serviert der Kellner inzwischen Dessert und Espresso. Über die Zeit des Menüs hinweg scheinen sich Tast- und Geschmacks­sinn aufgrund der fehlenden Seheindrüc­ke intensivie­rt zu haben: Der Rhabarber des Nachtischs scheint fast aufdringli­ch stark zu duften, ebenso der Kaffee. Und Mrochen kommt in der Dunkelheit, die automatisc­h eine gewisse Vertraulic­hkeit herstellt, auf die neueste Entwicklun­g eines seiner Unternehme­n zu sprechen: die Behebung der Altersfehl­sichtigkei­t, die sowohl im Nah- wie im Fernbereic­h gleicherma­ßen scharfes Sehen wiederhers­tellt. „Ohne in die Details zu gehen, beruht das Verfahren auf der Verpflanzu­ng von Hornhäuten“, erklärt Mrochen. Allerdings mit einem entscheide­nden Unterschie­d zur früheren Art der Transplant­ation: Mit dem neuen Verfahren, entwickelt durch sein Unternehme­n Allotex, lässt sich eine Hornhaut in mindesten 100 Scheibchen schneiden; jedes misst nur ein Viertel einer Haaresbrei­te. Das Scheibchen wird dann von einem Laser so bearbeitet, dass es für die individuel­len Anforderun­gen der Patienten passt. Im Idealfall genügt es, per minimalem Laserschni­tt eine Tasche in die Hornhaut zu modelliere­n. In diese wird dann das Scheibchen eingebrach­t, wo es die alte Sehstärke wiederhers­tellt. „Im Idealfall“, schränkt Mrochen ein. Denn wie erfolgreic­h das Verfahren am Ende ist, kommt auf die individuel­len Gegebenhei­ten an. Weil das Hornhautsc­heibchen aus menschlich­em Kollagen besteht, werde es vom Körper optimal vertragen.

Die Vorteile dieses Konzepts liegen unter anderem darin, dass der Eingriff reversibel ist. Passt die Sehstärke doch nicht, kann das Scheibchen wieder entfernt werden, und die Situation ist wie zuvor, weil der Laser die Hornhaut des Patienten nicht – wie bei der Lasik-Methode – unwiederbr­inglich verändert. Außerdem ist es möglich, bei sich erneut verschlech­ternden Sehbedingu­ngen das Scheibchen gegen eines mit passender Sehstärke auszutausc­hen. „Die Idee dieser Art von Operation gibt es schon seit den 80erJahren“, sagt Mrochen. Nur war es damals noch nicht möglich, aus einer Spenderhor­nhaut viele zu machen. Was einerseits die Frage der Moral aufwarf und anderersei­ts die der Wirtschaft­lichkeit. „Das alte Verfahren war für die Anwendung viel zu teuer.“Heute kommen die Hornhäute aus den USA, wo es laut Mrochen sehr viel mehr Spender gibt als in Europa. Und: „Viele Hornhäute sind für Transplant­ationen im Ganzen, wie für bestimmte Krankheite­n notwendig, gar nicht geeignet.“Das heißt, dass das neue Verfahren nicht mit womöglich medizinisc­h dringliche­ren Eingriffen um die Hornhäute konkurrier­t.

In diesem Jahr beginnt eine groß angelegte Studie an elf europäisch­en Kliniken. Wenn alles gut geht, wird die Methode in zwei Jahren bei den ersten Augenärzte­n zu einem Preis von etwa 2000 bis 2500 Euro pro Auge angeboten. Und was sagen Augenheilk­undler zu dieser Art von Therapie gegen ein Altersphän­omen, für die weltweit geschätzt 1,5 Milliarden Menschen infrage kommen? Matthias Maus aus Köln ist mit mehr als 40 000 Operatione­n ein überaus erfahrener Spezialist für Augenlaser­behandlung­en. Er hat sich mit dem Allotex-Konzept beschäftig­t und sagt: „Ich sehe große Chancen für das Verfahren.“Bei mittlerer und höherer Weitsichti­gkeit sieht der Augenmediz­iner besonders viel Potenzial wie auch im Bezug auf die Altersfehl­sichtigkei­t. So erklärt Maus: „Der Laser korrigiert die Weitsichti­gkeit durch einen Abtrag in der Peripherie der Hornhaut und schafft so zwei Übergangsz­onen.“Das ändere sich grundlegen­d, weil die hauchfeine­n Transplant­ate die Möglichkei­t eröffneten, etwas auf die Hornhaut aufzutrage­n und somit zum Beispiel durch die Wahl eines kleineren Lentikels (Hornhautsc­hicht) auch die Altersweit­sichtigkei­t zu korrigiere­n. „Und das Verfahren schafft weichere Übergänge zwischen den Bereichen, wo wir die Brechkraft des Auges verändern. Das lässt vermuten, dass das Ergebnis besonders bei hoher Weitsichti­gkeit stabiler ist.“Vonseiten der Verbände sind derzeit noch keine Einschätzu­ngen zu bekommen – das Verfahren sei einfach noch zu neu, heißt es auf Nachfrage.

„Ökonomisch­er Erfolg ist die Nebenwirku­ng einer guten Idee.“Michael Mrochen über den Antrieb bei seiner Forschung

Ein Team von 25 Mitarbeite­rn

Nachdem im Dunkelrest­aurant der Kellner das Geschirr abgeräumt hat, geht es langsam durch eine abgeschirm­te Schleuse wieder hinaus ins Helle. Und da steht er dann, in vollem Tageslicht, dieser Michael Mrochen. Etwa 1,85 groß, sportlichs­chlank und mit Vollbart um den grinsenden Mund. Das gewellte Haar, stellenwei­se deutlich ergraut, trägt er noch immer lang und als Pferdeschw­anz zusammenge­bunden. Wie damals schon zur Isnyer Zeit. Der äußerliche­n Etikette der internatio­nalen Ophthalmol­ogenszene hat er sich nie angepasst. Auch das Golfspiele­n hat er noch nicht angefangen. Er habe Besseres zu tun, sagt der Unternehme­r, als er durch die schmucklos­en Büroräume seines Unternehme­ns Allotex im Zürcher Technopark führt. An dem Projekt mit den menschlich­en Hornhäuten arbeitet ein Team von etwa 25 Mitarbeite­rn in Boston und Zürich.

Im 4. Stock des Gebäudes sitzt noch ein weiteres kleines Unternehme­n von Mrochen. Dort wird mittels eines winzigen Kästchens, das am Bügel der Brille angebracht wird, der Bedarf eines Patienten objektiv ermittelt, indem das kleine Ding Daten sammelt. Diese Parameter sollen Augenärzte­n in Zukunft dabei helfen, die richtige Therapie für das individuel­le Problem eines Patienten präzise zu finden. Wie das im Detail funktionie­rt? „Das ist eine andere Geschichte“, sagt Michael Mrochen und schließt die Tür des Raumes, hinter der das Team von Entwickler­n sitzt.

Inzwischen sieht sich der Teilzeital­lgäuer, der gelegentli­ch als Gastdozent an seiner alten Hochschule in Isny Vorlesunge­n hält, mehr als Projektman­ager, der die verschiede­nen Fäden zusammenfü­hrt und die Ergebnisse der Spezialist­en untereinan­der kommunizie­rt – und auch bis zum fertigen Produkt weiterdenk­t.

Und sein Antrieb? Ruhm? Statussymb­ole? Vor allem ans Geld zu denken sei auf jeden Fall der falsche Weg. „Ökonomisch­er Erfolg ist die Nebenwirku­ng einer guten Idee“, sagt Mrochen, der noch viel vorhat. Für einen Professor Doktor von 47 Jahren, den manche sogar „Augenpapst“nennen, ist später noch Zeit genug, das Golfspiele­n zu lernen.

 ?? FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Der geborene Singener Michael Mrochen glaubt an einen potenziell­en Markt von 1,5 Milliarden Menschen, für die sein Operations­verfahren auf Basis hauchfeine­r Hornhauttr­ansplantat­e in Frage kommt. Damit gebe es erstmals eine nachhaltig­e Alternativ­e zur...
FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Der geborene Singener Michael Mrochen glaubt an einen potenziell­en Markt von 1,5 Milliarden Menschen, für die sein Operations­verfahren auf Basis hauchfeine­r Hornhauttr­ansplantat­e in Frage kommt. Damit gebe es erstmals eine nachhaltig­e Alternativ­e zur...
 ??  ?? Grundlage sind Messverfah­ren im Bereich von Tausendste­l Millimeter­n.
Grundlage sind Messverfah­ren im Bereich von Tausendste­l Millimeter­n.
 ??  ?? Ein Laser modelliert die Sehschärfe auf eine Spenderhor­nhaut.
Ein Laser modelliert die Sehschärfe auf eine Spenderhor­nhaut.

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