Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Literatur als Portal zur Erkenntnis
Der Schriftsteller Dieter Wellershoff ist 92-jährig gestorben
Literatur muß gefährlich sein, oder sie ist belanglos.“Ein Satz wie ein Schwerthieb, eindeutig, schneidend. Wer so spricht oder schreibt, dem wird man ein hohes Maß an intellektueller Unabhängigkeit zuweisen. Dieter Wellershoff konnte für sich in Anspruch nehmen, diesem selbst gesetzten Ziel immer entgegen gearbeitet zu haben. Am Freitag ist er im Alter von 92 Jahren in Köln gestorben, wie sein Verlag Kiepenheuer & Witsch mitteilte.
Wellershoff war ein Erzähler von Rang, zugleich Essayist und Theoretiker, Autor eines Werks, das nahezu alle Gattungen umfasst: Romane und Novellen, Lyrik, Hörspiele und Drehbücher, Vorlesungen und Aufsätze. 1966 erschien sein erster Roman „Ein schöner Tag“. Es war die Familiengeschichte eines Witwers, der mit seiner autoritären Persönlichkeit die beiden bereits erwachsenen Kinder zu beherrschen versucht. Wellershoff war damals von Sartres Existentialismus beeinflusst. Er glaubte an die „Geworfenheit“des Individuums, wie er sie als junger Soldat im Krieg erlebt hatte. Und er glaubte daran, dass der Einzelne zwar über eine totale Wahlfreiheit verfügt, mit der er über sein Handeln entscheidet, dass er aber gerade deswegen auch die alleinige Verantwortung für sein Handeln trägt.
1925 in Neuss geboren, promovierte Wellershoff 1952 mit einer viel beachteten Arbeit über den damals höchst umstrittenen Gottfried Benn. Literatur als ein Portal zur Erkenntnis. Dass er später mit Gottfried Benn nicht mehr allzu viel anfangen konnte, ihn als „Bußprediger alten Stils“abtat, dessen Rhetorik lediglich ein „Übermaß an Meinungsfreude“erkennen lasse, belegte nur die intellektuelle Autonomie Wellershoffs.
In vielen Genres zu Hause
Immer wieder fiel auf, wie Wellershoff in seinem Werk die Herausforderung des Schreibens auf vielen Feldern angenommen hatte. Unübersehbar der Anspruch, die Standards zu übertreffen und ein gewisses Niveau zu halten. Auch als Romancier hat Wellershoff ein breit gefächertes Publikum erreicht – mit „Die Schönheit des Schimpansen“, „Der Sieger nimmt alles“, „Der Liebeswunsch“und zuletzt „Der Himmel ist kein Ort“. 20 Jahre lang hat Wellershoff als Lektor für den Verlag Kiepenheuer & Witsch gearbeitet. Böll, Born, Brinkmann, Seuren waren die Autoren, die er lektoriert hat. Daraus entstand dann irgendwann die „Kölner Schule des neuen Realismus“. Das alles hat ihn viel Kraft und Zeit gekostet, auf der anderen Seite aber seinen Kenntnisstand ungemein bereichert und sein Urteil geschärft.
„Augenblicke der Erkenntnis“heißt ein Text, in dem er Antwort auf die Frage des Theologen Friedrich Schorlemmer gab, welcher Bibeltext ihm persönlich das Meiste bedeute. Bei der Beantwortung dieser Frage – Wellershoff nannte die Kreuzigungsszene mit der Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“– stand die Erinnerung an die Kriegserfahrung im Hintergrund. Wellershoff war da der Religiosität eines Heinrich Böll sehr nahe.
Seine Konzeption des Schreibens war von den Begriffen der Erfahrung und der Arbeit, vom Handwerklichen her angelegt. Das ging bis zur Todeserfahrung, von der er sagte, dass er vor ihr keinerlei Angst habe. Die hatte er früher als junger Soldat. Als 17-Jähriger hatte er sich freiwillig zur Panzerdivision Hermann Göring gemeldet. Er wurde an der Ostfront verwundet und kehrte später noch einmal an die Front zurück. Wie viele seiner „Flakhelfer-Generation“wurde er seit 1944 als Mitglied der NSDAP geführt. Als man ihm das 2006 vorwarf, plädierte er dafür, die allzu rasche Karteikartenzuordnung genauer zu überprüfen, zumal er erwiesenermaßen keinen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hatte. Wellershoff wurde auch über diese Kontroverse nicht zum Moralisten, sondern setzte sich für eine „realistische“Literatur ein, die nichts beschönigt, nichts verschweigt, die Phänomene abbildet, aber nicht erklärt.