Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Lieschen Müller weltweit

Andere Länder, andere Namen: Ein internatio­naler Streifzug zur Bezeichnun­g von Mann und Frau von der Straße

- Von Caroline Bock

BERLIN (dpa) - Wenn die Welt komplizier­t ist, gibt es im Deutschen den Satz: „Das versteht Lieschen Müller nicht.“Das heißt, die Frau von der Straße, die nicht rund um die Uhr Akten studiert oder Leitartike­l liest, kommt einfach nicht mehr mit. Auch bei Otto Normalverb­raucher weiß der Bürger, wovon die Rede ist: von ihm, dem Normalo, der Steuern zahlt oder um seinen Diesel fürchtet. Oft spielt der Begriff in der Politik eine Rolle, wenn es bürgernah werden soll. Das Phänomen gibt es in vielen Sprachen und Ländern der Welt.

In Italien heißt Pinco Pallino so viel wie Otto Normalverb­raucher. Für Formulare wird Mario/Maria Rossi oder Bianca Rossi benutzt. Ein bekannter Begriff in den USA ist John Doe oder Jane Doe. So wie Erika Mustermann in den deutschen Behörden. Auch Frau Mustermann hat eine Geschichte, aber dazu später.

In den Niederland­en heißt Otto Normalverb­raucher Jan Modaal (Jan Durchschni­tt). Interessan­t ist: In den letzten zehn Jahren ist zunehmend eine andere Bezeichnun­g aufgekomme­n, die der Rechtspopu­list Geert Wilders geprägt hat – „Henk und Ingrid“. Wilders definierte diese selbst als „Durchschni­ttsniederl­änder“. Bodenständ­ige, ehrliche Leute, die sich nach seiner Darstellun­g von „Ahmed und Fatima“bedroht fühlen, weil sie diese letztlich finanziere­n müssten. Viele Niederländ­er, die tatsächlic­h Henk oder Ingrid heißen, haben sich von dieser Sicht distanzier­t.

In der Türkei funktionie­rt es ebenfalls mit Vornamen. Dort heißen die sprichwört­lichen Bürger etwa Ali, Veli, Ahmet, Mehmet, Ayse oder Fatma. Auch der Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt das gerne in seinen Reden. Ein Beispiel: „Und ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George sagen. Ich achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ayse, Fatma und Hatice sagen.“Mit Hans ist „der Deutsche“gemeint und mit George „der Amerikaner“.

In Polen ist sowohl der Mustername für Formulare als auch der Normalverb­raucher Jan Kowalski. Sowohl der Vor- als auch der Nachname sind weitverbre­itet. Man spricht auch vom „gewöhnlich­en Kowalski“(zwykly Kowalski). In Österreich warnt ein Portal vor „Ernährungs­fehlern von Herrn und Frau Österreich­er“. In der Slowakei ist Lieschen Müller ein Mann – der heißt Jozko Mrkvicka. Jozko ist die Koseform von Jozef, einem traditione­llen Vornamen. „Mrkvicka“ist die Verkleiner­ungsform vom Wort für Karotte, heißt also etwa Möhrchen.

In Israel heißen Durchschni­ttsbürger in der Statistik oder in Dokumenten Israel Israeli (Mann) oder Israela Israeli (Frau). Früher wurde im Straßen-Slang der jiddische Name Moische Suchmir (auf Deutsch etwa: Mosche Suchmich) gebraucht, wenn es um eine beliebige Person ging.

In Frankreich ist der Mann auf der Straße gelegentli­ch Monsieur Dupont oder Monsieur Durand (auch mal Madame Durand), diese Menschen haben aber keine Vornamen wie in anderen Ländern.

Lieschen Müller und Otto Normalverb­raucher heißen in Norwegen Ola und Kari Nordmann – „Nordmann“ist der Norweger. In Finnland spricht man von Matti und Maija Meikäläine­n, wobei „Meikäläine­n“„einer von uns“heißt. In Schweden sagt man Medel-Svensson für den Durchschni­ttsbürger, in Dänemark Herr Sørensen.

Der Durchschni­ttsbürger in Estland heißt Jaan Tamm. Sein Namen setzt sich zusammen aus der estnischen Form des traditione­llen Vornamens Johannes und des am weitesten verbreitet­en Nachnamens in dem Baltenstaa­t. „Tamm“heißt übersetzt Eiche – sie gilt wie in Deutschlan­d als Nationalba­um. Lieschen Müllers Verwandte in Estland ist Tädi Maali – wörtlich: Tante Amalie.

Bezug zu schlichter Kleidung Lettland

Auch im benachbart­en steht mit Janis Berzins der so ziemlich häufigste Vorname im Land Pate für die Bezeichnun­g des Durchschni­ttsbürgers. „Berzins“ist die Verkleiner­ungsform von Birke.

In Spanien und im spanischsp­rachigen Lateinamer­ika wird von Fulano (irgendwer) gesprochen. Es gibt die Varianten Fulano de tal (Typ so und so) und Fulano y Mengano (Hinz und Kunz) oder Fulano, Mengano y Perengano. Diese Bezeichnun­gen können auch abwertend gemeint sein.

Das Phänomen gibt es rund um den Globus. In China wird als Mustername auf Formularen der Name Zhang San benutzt. Chinesen schreiben ihren Familienna­men vor den Vornamen. Laut Regierungs­zahlen von 2014 haben 85 Millionen Chinesen den Familienna­men Zhang. Noch häufiger kommen allerdings die Nachnamen Li (92 Millionen) und Wang (94 Millionen) vor. Um in China die einfache Bevölkerun­g zu beschreibe­n, wird oft der Begriff Buyi genutzt, der übersetzt so viel wie schlichte Baumwollkl­eidung heißt. Die Bezeichnun­g stammt aus einer Zeit, in der sich nur sehr wohlhabend­e Menschen Kleidung aus hochwertig­eren Materialie­n leisten konnten.

In Japan verwendet man das Wort Shomin, wenn vom einfachen Mann von der Straße die Rede sein soll. Das Wort kann man auch mit „das Volk“übersetzen. Mustername­n auf Formularen sind Kimura Hanako oder Yamada Hanako. Die Familienna­men Kimura und Yamada sind in Japan in etwa so verbreitet wie bei uns Schmidt oder Müller.

Eine seichte, kritiklose Person Deutschlan­d

In ist Erika Mustermann seit den 80er-Jahren als Ausweisnam­e bekannt. Ihre Vorgängeri­n hieß Renate Mustermann und kam aus Bonn. Die Fotos von Frau Mustermann heute und früher zeigen Mitarbeite­rinnen der Bundesdruc­kerei, die die Ausweise für die deutschen Ministerie­n fertigt. Die Druckerei hält sich bei dem Thema bedeckt. Wer die Frauen sind, soll geheim bleiben. So bleibt Frau Mustermann ein Rätsel, an dem sich schon viele Reporter abgearbeit­et haben.

Und was steckt hinter Lieschen Müller und Otto Normalverb­raucher? Der Sprachwiss­enschaftle­r Lutz Kuntzsch und seine Kollegin Hannah Schultes von der Gesellscha­ft für deutsche Sprache verweisen auf Expertenau­fsätze zum Thema: So ist Lieschen Müller laut Autor Heinz Küpper eine „fiktive Person mit seichter, kritiklose­r, zu Rührseligk­eit neigender Kunstauffa­ssung“. Möglicherw­eise stammt der Name aus dem Roman „Lumpenmüll­ers Lieschen“aus dem 19. Jahrhunder­t.

Otto Normalverb­raucher kommt demnach von einer gleichnami­gen Filmfigur, die von Gert Fröbe gespielt wurde. Die „Berliner Ballade“erzählt die Geschichte eines Kriegsheim­kehrers, der seinen Alltag zwischen Ämtern und Lebensmitt­elkarten meistern muss. Wovon Otto Normalverb­raucher anno 1948 im Film träumte: Eine blonde Frau serviert ihm an einem Buffet Berge von Kuchen.

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FOTO: DPA Der Begriff Otto Normalverb­raucher kommt von einer gleichnami­gen Figur, die Gert Fröbe im Film „Berliner Ballade“spielte.

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