Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Expressionismus in seiner ganzen Fülle
Das Edwin-Scharff-Museum zeigt 130 Holzschnitte von rund 90 Künstlern
NEU-ULM - Eine Epoche der Zerrissenheit, eine intensive Zeit voller Wut, aber auch voller Hoffnung und Aufbruchsstimmung – geprägt von einem Krieg, der Millionen Menschen das Leben kostet und am Ende das überkommene System aus den Angeln hebt. Kaum eine Kunstrichtung ist so eng mit der deutschen Geschichte verwoben wie der Expressionismus, der in seiner Hochphase in den 1910er- und 1920er-Jahren alle Künste erfasste. Wenn mal so will, wurde er zum kulturellen Flächenbrand. Das EdwinScharff-Museum begibt sich mit seiner neuen Ausstellung „Flächenbrand Expressionismus“mitten hinein in den Brandherd jener Epoche.
Ganze Breite der Bewegung
Künstlergruppen wie die „Brücke“oder der „Blaue Reiter“sind Schwergewichte der Kunstgeschichte. Die NeuUlmer Schau setzt jedoch einen bemerkenswert anderen Akzent. Denn die mehr als 130 gezeigten Arbeiten aus der noch nie öffentlich gezeigten Privatsammlung des Münchners Joseph Hierling, so Museumsleiterin Helga Gutbrod, sollen die ganze Breite der Bewegung widerspiegeln. Große Namen wie Ernst Ludwig Kirchner oder Wassily Kandinsky sind zwar vertreten, aber dazu noch fast 90 weitere Künstler, viele davon vergessen oder nur noch Fachleuten bekannt.
Alle sind in der Ausstellung mit Holzschnitten zu sehen, eine Technik, so Kurator Ron Manheim, die bei der Verbreitung des Expressionismus eine große Rolle gespielt hat – über Zeitschriften wie „Die Aktion“oder „Der Sturm“, über Bücher, Plakate und Kataloge.
Ganz abgesehen davon, dass, wie Museumschefin Gutbrod sagt, das einfache und relativ spontane Verfahren perfekt zum expressionistischen Wunsch nach einem direkten Ausdruck der Gefühle passe. „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt“, heißt es im Manifest der „Brücke“, das 1906 von Ernst Ludwig Kirchner passenderweise in Holz geschnitten wurde.
Die Schau ist gegliedert in mehrere Themenbereiche, vom Porträt über gesellschaftskritische und biblische Motive bis zur Stadt- und Industriedarstel- lung. Im direkten Vergleich zeigen sich die vielen verschiedenen Einflüsse und Zugänge der Zeit.
Bemerkenswert auch, wie viele Spuren dieser vermeintlich deutschen Kunstrichtung ins Ausland führen. Fritz Krcals „Wolken über Gebirge“erinnert an die japanischen Holzschnitte, die im 19. Jahrhundert schon die Impressionisten faszinierten, die Herkunft von Johannes Molzahns abstraktem „Fabeltier“würde man eher im Umfeld der Pariser Kubisten verorten. Ist das noch Expressionismus? Wahrscheinlich nicht im engeren Sinne. Aber darum geht es im Edwin-ScharffMuseum nicht und das schmälert die Qualität der Ausstellung nicht im Geringsten.
Sie präsentiert den Expressionis- mus im künstlerischen Spannungsfeld der Zeit. Dazu trägt auch der begleitende, von Ron Manheim verfasste Band bei, der viel mehr als ein Katalog sein soll. Denn jeder einzelne Künstler wird in dem Buch mit einer Biografie vorgestellt: ein wichtiger Beitrag zur Wiederentdeckung. „Der Katalog kann als Handbuch fungieren“, wünscht sich Herausgeberin Helga Gutbrod. Der Expressionismus mag in internationalen Museen ganze Säle füllen – komplett erforscht ist er noch nicht.
Die Ausstellung "Flächenbrand Expressionismus" läuft bis 19. August. Der Katalog ( 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen) ist im Museum für 19,50 Euro erhältlich.