Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Als auch die Biberacher Jugend auf die Straße ging
Die Heimatstunde des Biberacher Schützenfests zeigt die wilde Zeit zwischen 1968 und 1970 sowie das Aufbegehren gegen Autoritäten
BIBERACH - Die Welle der Jugendproteste ist vor 50 Jahren auch nach Biberach geschwappt und lieferte den Anlass für eine Heimatstunde mit einem vergleichsweise aktuellen Bezug. Regisseur Dieter Maucher überschrieb sie mit „... seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“
1967 konnten die Abiturienten einen Aufsatz mit dem oben genannten Thema von Günter Eich wählen. Das wurde von diesen als Auftrag empfunden, die mit der Politik und dem gesellschaftlichen Geschehen zutiefst unzufrieden waren. Maucher hat aus diesen Ingredienzen eine spannende Collage gebastelt, die auf damaligen Quellen und Zeitzeugenaussagen beruht.
Das Stück springt sofort hinein ins pralle Leben: Das Publikum wird bereits vor dem Theatersaal von lauten „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen der Schüler empfangen. Sie stürmen aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, in der Hand die rote Mao-Bibel, reden von der geltenden Moral, was immer die Einzelnen sich seinerzeit darunter vorgestellt haben mögen. Fantastische Zeichnungen werden rückprojiziert, Assoziationen zu Hieronymus Bosch. Dann Fotos, wie die Erschießung eines Vietkong auf offener Straße. Begeisterung und Widerspruchsgeist schaukeln sich hoch. Die Kommentare der „Alten“: „Früher hat es das nicht gegeben.“Die Rockband auf der Bühne spielt 60er-Jahre-Klassiker wie „Hey Jude“, „Born to be wild“oder „Jumpin’ Jack Flash“. Die Musiker können auch sanft und leise wie beim „Biberacher Pastorale. Heintjes „Mama“kommt vom Band. Vor dem „Rund um mich her“am Ende intoniert Gitarrist Aja Gratz die ersten Töne der Biberacher Hymne wie einst Jimi Hendrix in Woodstock die US-Hymne.
Regisseur Maucher lässt das Geschehen klug auf drei gegeneinander strukturierten und spannungsreich mehrfach wechselnden Ebenen ablaufen. Da sind die jungen Aufmüpfigen mit ihren Demos, die mit Begeisterung Plakate und Spruchbänder malen, die sie auch durch den Zuschauerraum tragen. Ideologisiert und realitätsfern werfen sie Sexualität argumentativ mit Napalmbomben zusammen. Flugblätter fallen aus vom Himmel, amerikanisches „Großkapital“wird beschimpft.
Die zweite Spielebene ist die Gerichtsverhandlung, in der die drei Angeklagten im „Venceremos“-Prozess die damaligen Schlagworte nacherzählen. Wegen eines die guten Sitten verletzenden Titelbilds der Schülerzeitung „Venceremos“wurden sie Anfang 1970 angeklagt.
Die dritte Ebene ist das Geschehen in einer Biberacher Bürgersfamilie, deren Tochter zu den Aufbegehrenden gehört und die ihren spießbürgerlich wirkenden Vater, dessen Nazi-Vergangenheit zumindest angedeutet wird, „dieses Schwein“nennt.
Ein Teil der Kiesinger-Rede vom April 1968 auf dem Biberacher Marktplatz wird eingeblendet. Die Proteste der damaligen Biberacher A.P.O. gibt es dazu live auf der Bühne. „Kiesinger, Bauernfänger!“, schallt es durch den Saal. Der damalige OB Claus-Wilhelm Hoffmann, Werner Krug und andere Biberacher erzählen in Videoeinspielern von damals. Der große Sozialdemokrat Carlo Schmid tritt auf und bringt vernünftige und versöhnliche Töne in die aufgeheizte Atmosphäre bei den Jugendlichen.
Engagierte Parolen
Die Jungen rufen mit großer Emotion ihre engagierten Parolen, fordern vor Gericht Gleichberechtigung auch im Bett, sie halten mit Engagement und Begeisterung eine Vorbesprechung zur nächsten – der umstrittenen – „Venceremos“-Ausgabe. Die Alten sagen: „Das sind alles Spinner.“In der hochgepeitschten Emotionalität spitzt sich die Situation zu.
Beim Prozess werden Gutachter aus Justiz, Kultur und Psychologie gehört. Alle äußern Verständnis für die Schüler, bescheinigen ihrer Zeitschrift Harmlosigkeit, finden nichts Justiziables. Die drei jungen Angeklagten werden freigesprochen. Ihre und anderer hohe idealisierte Vorstellungen waren selbstredend nicht zu verwirklichen, aber sie haben mit ihren neuen Denkweisen und auch mit der Protesthaltung viel angestoßen und zum Guten bewegt.
Rainer Fuchs, Vorsitzender der Schützendirektion, dankte mit guten Gedanken Dieter Maucher, Ursula Maerker und allen anderen für ihre großartige Arbeit. Heimatstunde brauche Mut, brauche Toleranz und ist und bleibe harte Arbeit, so Fuchs. Sie war ein spannendes und interessantes Theatererlebnis, weckte bei der älteren Generation direkte Erinnerungen an diese Zeit, bei den jungen Leuten so manches Staunen über die Proteste von damals. Und heute? Aber das ist ein anderes Thema! Wirklich?
Weitere Fotos von der Heimatstunde gibt es im Internet unter