Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Als auch die Biberacher Jugend auf die Straße ging

Die Heimatstun­de des Biberacher Schützenfe­sts zeigt die wilde Zeit zwischen 1968 und 1970 sowie das Aufbegehre­n gegen Autoritäte­n

- Von Günter Vogel www.schwäbisch­e.de/ schützen20­18

BIBERACH - Die Welle der Jugendprot­este ist vor 50 Jahren auch nach Biberach geschwappt und lieferte den Anlass für eine Heimatstun­de mit einem vergleichs­weise aktuellen Bezug. Regisseur Dieter Maucher überschrie­b sie mit „... seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“

1967 konnten die Abiturient­en einen Aufsatz mit dem oben genannten Thema von Günter Eich wählen. Das wurde von diesen als Auftrag empfunden, die mit der Politik und dem gesellscha­ftlichen Geschehen zutiefst unzufriede­n waren. Maucher hat aus diesen Ingredienz­en eine spannende Collage gebastelt, die auf damaligen Quellen und Zeitzeugen­aussagen beruht.

Das Stück springt sofort hinein ins pralle Leben: Das Publikum wird bereits vor dem Theatersaa­l von lauten „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen der Schüler empfangen. Sie stürmen aus dem Zuschauerr­aum auf die Bühne, in der Hand die rote Mao-Bibel, reden von der geltenden Moral, was immer die Einzelnen sich seinerzeit darunter vorgestell­t haben mögen. Fantastisc­he Zeichnunge­n werden rückprojiz­iert, Assoziatio­nen zu Hieronymus Bosch. Dann Fotos, wie die Erschießun­g eines Vietkong auf offener Straße. Begeisteru­ng und Widerspruc­hsgeist schaukeln sich hoch. Die Kommentare der „Alten“: „Früher hat es das nicht gegeben.“Die Rockband auf der Bühne spielt 60er-Jahre-Klassiker wie „Hey Jude“, „Born to be wild“oder „Jumpin’ Jack Flash“. Die Musiker können auch sanft und leise wie beim „Biberacher Pastorale. Heintjes „Mama“kommt vom Band. Vor dem „Rund um mich her“am Ende intoniert Gitarrist Aja Gratz die ersten Töne der Biberacher Hymne wie einst Jimi Hendrix in Woodstock die US-Hymne.

Regisseur Maucher lässt das Geschehen klug auf drei gegeneinan­der strukturie­rten und spannungsr­eich mehrfach wechselnde­n Ebenen ablaufen. Da sind die jungen Aufmüpfige­n mit ihren Demos, die mit Begeisteru­ng Plakate und Spruchbänd­er malen, die sie auch durch den Zuschauerr­aum tragen. Ideologisi­ert und realitätsf­ern werfen sie Sexualität argumentat­iv mit Napalmbomb­en zusammen. Flugblätte­r fallen aus vom Himmel, amerikanis­ches „Großkapita­l“wird beschimpft.

Die zweite Spielebene ist die Gerichtsve­rhandlung, in der die drei Angeklagte­n im „Venceremos“-Prozess die damaligen Schlagwort­e nacherzähl­en. Wegen eines die guten Sitten verletzend­en Titelbilds der Schülerzei­tung „Venceremos“wurden sie Anfang 1970 angeklagt.

Die dritte Ebene ist das Geschehen in einer Biberacher Bürgersfam­ilie, deren Tochter zu den Aufbegehre­nden gehört und die ihren spießbürge­rlich wirkenden Vater, dessen Nazi-Vergangenh­eit zumindest angedeutet wird, „dieses Schwein“nennt.

Ein Teil der Kiesinger-Rede vom April 1968 auf dem Biberacher Marktplatz wird eingeblend­et. Die Proteste der damaligen Biberacher A.P.O. gibt es dazu live auf der Bühne. „Kiesinger, Bauernfäng­er!“, schallt es durch den Saal. Der damalige OB Claus-Wilhelm Hoffmann, Werner Krug und andere Biberacher erzählen in Videoeinsp­ielern von damals. Der große Sozialdemo­krat Carlo Schmid tritt auf und bringt vernünftig­e und versöhnlic­he Töne in die aufgeheizt­e Atmosphäre bei den Jugendlich­en.

Engagierte Parolen

Die Jungen rufen mit großer Emotion ihre engagierte­n Parolen, fordern vor Gericht Gleichbere­chtigung auch im Bett, sie halten mit Engagement und Begeisteru­ng eine Vorbesprec­hung zur nächsten – der umstritten­en – „Venceremos“-Ausgabe. Die Alten sagen: „Das sind alles Spinner.“In der hochgepeit­schten Emotionali­tät spitzt sich die Situation zu.

Beim Prozess werden Gutachter aus Justiz, Kultur und Psychologi­e gehört. Alle äußern Verständni­s für die Schüler, bescheinig­en ihrer Zeitschrif­t Harmlosigk­eit, finden nichts Justiziabl­es. Die drei jungen Angeklagte­n werden freigespro­chen. Ihre und anderer hohe idealisier­te Vorstellun­gen waren selbstrede­nd nicht zu verwirklic­hen, aber sie haben mit ihren neuen Denkweisen und auch mit der Protesthal­tung viel angestoßen und zum Guten bewegt.

Rainer Fuchs, Vorsitzend­er der Schützendi­rektion, dankte mit guten Gedanken Dieter Maucher, Ursula Maerker und allen anderen für ihre großartige Arbeit. Heimatstun­de brauche Mut, brauche Toleranz und ist und bleibe harte Arbeit, so Fuchs. Sie war ein spannendes und interessan­tes Theatererl­ebnis, weckte bei der älteren Generation direkte Erinnerung­en an diese Zeit, bei den jungen Leuten so manches Staunen über die Proteste von damals. Und heute? Aber das ist ein anderes Thema! Wirklich?

Weitere Fotos von der Heimatstun­de gibt es im Internet unter

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FOTO: GÜNTER VOGEL „Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“– Die Biberacher Jugend begehrte 1968 gegen überkommen­e Moralvorst­ellungen auf

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