Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Choreografie ist ein hartes Brot“
Von Stuttgart in die ganze Welt: Ein Porträt des Choreografen Marco Goecke
STUTTGART - Marco Goecke ist einer der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit. Bis vor wenigen Wochen war er Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. 13 Jahre lang prägte er das künstlerische Erscheinungsbild der Weltklasse-Compagnie. In einem Jahr wird er die Leitung des Balletts am Staatstheater Hannover übernehmen. Dem Land bleibt er aber als zukünftiger Erster Residenzchoreograf von Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart bis 2020 erhalten. Ein Porträt.
Im Tanz ist Marco Goecke, seit er vor 18 Jahren angefangen hat zu choreografieren, etwas gelungen, was nur wenigen in der Zunft beschieden ist: einen unverwechselbaren, gültigen Stil von choreografierter Körperbewegung zu kreieren.
Er hat die Kunst des Balletts im 21. Jahrhundert erneuert. Das von Goecke erschaffene Körperbild ist sofort erkennbar, egal ob in Europa oder Amerika. Die Arme werden in einer nervös-fiebrigen Art um Kopf und Körper in Bewegung gebracht, dass man fast irre wird beim Zusehen. Gesicht und Beine tanzen hochgestochen, verzerrt und trippelnd mit, sodass ganze Seelenlandschaften assoziiert werden können. Goeckes Tänzer, fast immer mit nacktem Oberkörper, in schwarzer langer Hose und manchmal einem Jacket, die Frauen gendermäßig ähnlich gekleidet, berühren.
Im Probensaal beginnt Goecke jedoch jedes Mal fast von vorne. Denn seine vielfach mit Preisen gewürdigte Arbeit verflüchtigt sich im Moment ihrer Entstehung. Nur die häufige Wiederholung im Körper eines anderen Menschen an einem Ort zu einer bestimmten Zeit machen sein Werk für kurze Zeit haltbar. „Das ist ein ganz hartes Brot, die Choreografie. Man gibt etwas, das es noch nicht gibt und das man nur mit Schritten versuchen kann“, sagt Goecke.
Ballett mit Pistolenschüssen
Weit über 60 Stücke hat der gebürtige Wuppertaler dem Publikum fast auf der ganzen Welt geschenkt. In den Niederlanden war er Hauschoreograf beim berühmten Scapino Ballet Rotterdam. Seit 2013 arbeitet er in derselben Funktion für das renommierte Nederlands Dans Theatre in Den Haag.
„Man muss Leidenschaft am Tanz haben und auch das Quäntchen Wahnsinn. Den haben wir alle, um das zu tun, was wir tun.“Auch so ein Satz von ihm. „Goeckes Werk ist überall “, brachte es Tamas Detrich, neuer Intendant des Stuttgarter Balletts, unlängst auf den Punkt. Mit ihm hatte Goecke vor einem Jahr Streit, weil Detrich ihn nach dreizehn Jahren nicht mehr als Hauschoreografen haben wollte. Goecke, emotional schwer getroffen und dann noch krank geworden, ging an die Presse und sagte die geplante Uraufführung eines neuen Handlungsballetts über Franz Kafka für das Stuttgarter Ballett ab. Heute sind die Wogen wieder geglättet. Goecke schenkte seiner alten Compagnie mit „Almost Blue“noch einmal ein grandioses Ballett, gleichwohl er ein paar Pistolenschüsse in die Choreografie für seine ehemalige Compagnie integrierte.
Goecke, der stets von Gustav, seinem Dackel begleitet wird, stürzte sich in weitere Aufträge. Unter anderem war Tänzer Rosario Guerra, der Goeckes Ballett „Nijinski“über den Jahrhunderttänzer für Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart zum Welthit machte, im für ihn kreierten Solo „Infant Spirit“zu erleben. Es wurde zu einer schmerzhaft schönen, sehr anrührenden Variation Goeckes über seine Jugend in Wuppertal, als er schüchtern und voller Sehnsucht nach einem anderen Leben die große Tanztheater-Lady Pina Bausch verehrte. Friedeman Vogel, eine von vielen Musen Goeckes, für den er 2008 „Orlando“nach Virginia Woolf schuf, tanzte schließlich beim Stuttgarter Ballett noch einmal „Fancy Goods“.
Goecke freut sich, dass er mit Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart weiterhin einen Ort in der Landeshauptstadt hat, an dem er seine Arbeit in Baden-Württemberg fortsetzen kann. Auch das Staatstheater Nürnberg und das Nationaltheater Mannheim werden in den kommenden Monaten Werke von Goecke zeigen: „Nichts“und „Thin Skin“, zudem das Nederlands Dans Theatre in Den Haag, wohin Goecke in diesen Tagen aufbricht. Natürlich mit Gustav im Schlepptau.