Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Nostalgie, Melancholie und der Tod
Frauen stehen im Zentrum der ersten Wettbewerbsfilme der Filmfestspiele von Venedig
Emma Stone und Rachel Weisz, Ryan Gosling und Tye Sheridan – angelsächsische Stars dominierten zum Auftakt den Roten Teppich von Venedig, zusammen mit italienischen Heimspielen und zwei erschütternden Dokumentarfilmen.
Während der Eröffnungsfilm „First Man“den Flug, mit dem Neil Armstrong 1969 zum ersten Mensch auf dem Mond wurde allzu akribisch nacherzählt, und dem HollywoodHeldenmythos vom Einzelnen, der alle Herausforderungen meistert, allenfalls eine Fußnote hinzufügt, bot der zweite Tag der Filmfestspiele von Venedig zwei großartige Wettbewerbsbeiträge
Sind Frauen die besseren Menschen, und ansonsten Opfer böser Männerwelten? Agieren sie jederzeit unsexistisch und ohne auf ihre Vorteile zu achten? Tragen sie Konkurrenzkämpfe ohne Neid, falschen Ehrgeiz und böse Tricks aus? Verwandelt sich harte Macht in ihren Händen plötzlich in kluge Verantwortung? Die eine oder der andere mag solche Illusionen hegen, doch in Venedig würde er schnell eines Anderen belehrt. „The Favourite“, der erste Kostümfilm des in England lebenden Griechen Yorgos Lanthimos reist zurück in ein barockes Matriarchat: die Zeit der Queen Anne (1702-1714). Olivia Colmen spielt eine Königin, die depressiv ist, launisch, eine Gefangene ihrer selbst. Überdies von Wundbrand und den Folgen eines Schlaganfalls heimgesucht, ist sie der Regierungsgeschäfte überdrüssig und Wachs in den Händen ihrer Vertrauten. Die wahre Herrscherin ist Lady Sarah Marlborough, die gespielt von Rachel Weisz, geschickt die Klaviatur der höfischen Machtausübung bedient. Doch in Abigail (Emma Stone) erwächst ihr eine ebenbürtige Konkurrentin um die königliche Gunst.
„The Favourite“, dessen Titel sich auf beide Hofdamen münzen lässt, ist eine subtile, facettenreiche Studie weiblicher Macht zwischen Furcht und Eigennutz. Der Blick des Regisseurs auf seine Figuren ist empathisch, es gibt hier nicht Gut und Böse, sondern eine Welt aus Zwängen und den Kampf unter Gleichen, die auf ihren Vorteil bedacht sein müssen, wenn sie überleben wollen. Zugleich ist der Blick auf die Epoche belustigt und distanziert. Lanthimos modernisiert den Barock ins Ironisch-Absurde und erinnert darin an Sofia Coppolas „Marie Antoinette“.
Dramatische Momente in „Roma“
Nicht weniger ausgezeichnet war „Roma“vom Mexikaner Alfonso Cuarón. In einem Film mit offenkundigen autobiografischen Elementen reist der Regisseur zurück ins Mexiko der Jahre 1970/71, und erzählt von einer wohlhabenden Arztfamilie mit vier Kindern. Die Hauptfigur ist das Dienstmädchen Cleo, die gute Seele des Hauses und vertraute Ersatzmutter der Kinder. Das wird sie um so mehr, als der Vater eines Tages von einer Dienstreise nicht mehr zurückkehrt, sondern mit der neuen Geliebten zusammenzieht.
Sehr gelassen rekonstruiert der Regisseur das ganz normale Leben. Mit einer fließenden, gut beobachtenden Kamera, großer Sensibilität und Humor. „Roma“ist nostalgisch und melancholisch, aber durchzogen von apokalyptischen Momenten, wie einem heftigen Waldbrand, einem Erdbeben in einer Geburtsklinik und vor allem der historisch belegten blutigen Niederschlagung einer Studentendemonstration durch analphabete Arbeiter. Sie hatte man in die Stadt gekarrt und mit Knüppeln und Pistolen auf die Unbewaffneten losgelassen – rund 120 wurden ermordet.
Die späten 1970er-Jahre stehen auch im Zentrum eines weiteren Films: „Deslembro“, übersetzt „Entinnerung“, nach einem Gedicht von Fernando Pessoa, heißt das Debüt der Brasilianerin Flavia Castro. Ihr autobiografisch gefärbter Film erzählt von Joana, einer Tochter politischer Emigranten, die in Paris aufwächst. Als sie 14 ist, kehrt die Familie nach Brasilien zurück – doch die Kinder fühlen sich fremd und vermissen Europa. Joana vergräbt sich zunächst in Bücher, und fühlt sich vor allem ihrer Großmutter nahe. Zögernd forscht sie dem Schicksal ihres leiblichen Vaters nach, der von der Diktatur gefoltert und ermordet wurde.
Sinnliches in „Deslembro“
Echte Erinnerungen vermischen sich mit Fantasiertem. Castros hervorragender Film ist klug wie sinnlich, eine Meditation über das Wesens des Erinnerns. Und ein Porträt des Erwachsenwerdens in Zeiten der Revolution.
Gewohntes bieten die Coen-Brüder: „The Ballad of Buster Scruggs“ist ein Episodenfilm, der sechs kurze Geschichten aus dem Wilden Westen vereint. Jede von ihnen ist spannend, kurios und von schwarzem Humor geprägt, denn in jeder stirbt am Ende eine Hauptfigur. Doch jenseits unterhaltsamer zweieinhalb Stunden bleibt wenig übrig außer toller Schauspielleistungen – Zoe Kazan, Tom Waits und James Franco stechen besonders hervor. Ein Spiel mit einem klassischen Genre – Business as Usual für die Coens.