Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Charmeoffensive ist knallhartes Kalkül“
Grünen-Politiker Cem Özdemir zum Kurs des türkischen Präsidenten Erdogan
BERLIN - Erdogan solle sich in Deutschland auch seinen Kritikern stellen, fordert der Grünen-Politiker Cem Özdemir drei Wochen vor dem Besuch des türkischen Staatspräsidenten in Deutschland. Sabine Lennartz sprach mit ihm.
In drei Wochen wird der türkische Staatspräsident Erdogan in Berlin erwartet. Ist die Türkeireise von Außenminister Maas ein Entspannungssignal?
Es kann ja kein Zweifel bestehen, dass die Türkei aus geostrategischen Gründen ein wichtiges Land und die Verflechtungen mit Deutschland wegen der hier lebenden Deutschtürken besonders eng sind. Deshalb ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben. Die türkische Charmeoffensive darf allerdings nicht den Blick auf die Realität vernebeln: Das Erdogan-Regime sägt weiterhin unverfroren an den Grundrechten, es verfolgt kritische Köpfe auch über die Landesgrenzen hinaus und betrachtet die Deutschtürken als eine Art fünfte Kolonne, die man auf Knopfdruck gegen Deutschland mobilisieren kann. Das geht gar nicht. Ich bin deshalb froh, dass die Bundesregierung endlich die Gelder für den aus Ankara gelenkten Moscheeverband Ditib gestrichen hat. Und ich hoffe, dass jeder deutsche Politiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit Erdogan daran erinnert: Keine Normalität, ohne dass sich die türkischen Gefängnisse leeren.
Sehen Sie in der Türkei wieder eine wachsende Bereitschaft, auf Europa zuzugehen, nachdem man es sich mit den Amerikanern verscherzt hat?
Die Charmeoffensive ist knallhartes Kalkül und folgt einem selbstverschuldeten wirtschaftlichen Niedergang sondergleichen. Europäische Länder sollte jetzt die Chance nutzen, auf Fortschritte in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu pochen und Leuten zur Freiheit zu verhelfen, die unter fadenscheinigen Begründungen in Erdogans Gefängnissen festgehalten werden.
SPD-Chefin Andrea Nahles hat vorgeschlagen, der Türkei bei ihren Schwierigkeiten finanziell beizuspringen. Ist für Sie eine deutsche Hilfe vorstellbar?
Die Adresse für Hilfe ist nicht Berlin oder Brüssel, sondern der IWF. Und der macht Auflagen. Die Krankheit, die die Türkei hat, können wir nicht heilen. Das kann nur Erdogan, wenn er seinen Kurs ändert.
Der Türkei ist sehr daran gelegen, dass deutsche Unternehmer in der Türkei investieren. Würden Sie deutschen Unternehmen raten, das zu tun?
Ich kann es keinem verdenken, der bei der aktuellen Rechtsunsicherheit vor Investitionen zurückschreckt. Die glaubwürdige Drohung mit der Einschränkung der Hermes-Bürgschaften, also der Absicherung von Krediten für Investitionen in der Türkei, muss jedenfalls auf dem Tisch bleiben, wenn die Bundesregierung in Ankara ernsthaft etwas erreichen möchte.
In Idlib droht eine humanitäre Katastrophe, bei der die Türkei mit weiteren syrischen Flüchtlingen rechnen muss. Kann Deutschland da helfen?
Europa und die Türkei können kein Interesse daran haben, dass Assad das nächste Massaker in Idlib anrichtet und viele Menschen fliehen müssen. Und Erdogan merkt gerade, dass türkische Interessen seinen neuen Freund Putin nicht kümmern.
Können Sie eigentlich erklären, warum Erdogan bei den Deutschtürken noch beliebter ist als in der Türkei?
Ich bezweifle, dass das für die Mehrheit der Deutschtürken zutrifft: Nur die Hälfte der Deutschtürken ist wahlberechtigt, und von denen wiederum hat nur die Hälfte gewählt. Aber erklärungsbedürftig ist es schon, wenn diejenigen, die bei uns die Vorzüge der Demokratie genießen, in der Türkei jemand wählen, der das Land in ein offenes Gefängnis verwandelt.
Erdogan strebt einen öffentlichen Auftritt vor seinen Landsleuten in Deutschland an. Was sagen Sie dazu?
Ich würde es mit einem neuen Ansatz probieren, auch weil es rechtlich wohl keine Handhabe gibt. Wenn Erdogan reden will, dann soll er sich seinen Kritikern stellen. Zum Beispiel bei einem Auftritt zusammen mit kritischen Journalisten oder jemand von der Opposition. Damit ein Austausch stattfindet und die Erdogan-Anhänger sich nicht abkapseln in ihrer eigenen Blase.
Eine letzte Frage: Viele hatten sie schon als deutschen Außenminister gesehen, bevor im letzten Herbst Jamaika platzte. Nach wie vor gehören Sie zu den beliebtesten Politikern. Baden-Württemberg reizt sie nicht?
Jamaika wurde verlindnert. Als Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur habe ich einen spannenden Job und arbeite an den zentralen Zukunftsthemen dieses Landes mit. Wenn alle Prognosen eingetroffen wären, säße ich nicht hier. Ich würde nie Deutsch lernen, hatte es geheißen, nie den Schulabschluss schaffen, nie Bundesvorsitzender der Grünen werden.
Und nie Ministerpräsident werden …
Es gibt einen, der nicht umsonst der beliebteste Ministerpräsident Deutschlands ist und das hoffentlich auch noch lange weitermachen wird.
Der GrünenPolitiker Cem Özdemir ist am 20. September zu Gast beim Bodensee Business Forum in Friedrichshafen im Graf-Zeppelin-Haus.