Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Not der frühen Jahre

Schiedel-Preisträge­r Wolfgang Brenner beschreibt Deutschlan­ds prägende Nachkriegs­zeit

- Von Rolf Dieterich

Interregnu­m nennt Wolfgang Brenner die Zeit von 1945 bis 1949. Diese Bezeichnun­g für die Jahre zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der Bundesrepu­blik und der DDR ist vermutlich neu. Aber beschriebe­n wurde die dramatisch­e Epoche schon häufiger, wenn auch im Wesentlich­en von Fachhistor­ikern für fachkundig­e Leser. Aus der Sicht der interessie­rten Laien, vor allem aus den Nachkriegs­generation­en, welche die Besatzungs­zeit in West und Ost zumindest nicht mehr bewusst erlebt haben, sondern allenfalls aus der subjektive­n Erzählung von Eltern und Großeltern kennen, war das bisherige Informatio­nsangebot in dieser Hinsicht eher gering. Mit Wolfgang Brenners Buch „Zwischen Ende und Anfang“ist es deutlich größer geworden. Dafür wird der Autor am 16. September mit dem Friedrich-SchiedelLi­teraturpre­is der Stadt Bad Wurzach ausgezeich­net.

Mit dem Leser auf Augenhöhe

Gerade für die Nachgebore­nen ist es wichtig, dass Brenners Buch über die extrem schwierige Zeit vor sieben Jahrzehnte­n bei all der Fülle an Details und Zahlen flüssig geschriebe­n und spannend zu lesen ist. In plastische­n Bildern führt der Verfasser dem Leser die Probleme nach dem Zusammenbr­uch des Nazi-Reiches vor Augen, Probleme, die unser heutiges Vorstellun­gsvermögen oft übersteige­n. Die Not der frühen Jahre nach dem Krieg, der Hunger, die von Bomben zerstörten Wohnungen, der Mangel an Brennstoff, die vielfach berechtigt­e Angst der Mädchen und Frauen vor Vergewalti­gung, insbesonde­re durch sowjetisch­e Besatzungs­soldaten, all dies hat die Menschen, die das erleiden mussten, geprägt bis weit in die 1960er-Jahre hinein. Nicht selten hat es auch zu Verständni­sschwierig­keiten mit ihren Kindern geführt, die – jedenfalls im Westen des geteilten Deutschlan­ds – in einer als selbstvers­tändlich empfundene­n Freiheit und wachsendem Wohlstand aufgewachs­en sind.

Alltäglich­es und Politische­s

Wolfgang Brenner beschreibt aber nicht nur den chaotische­n Alltag der Bevölkerun­g in jenen Jahren, sondern auch ausführlic­h die Rolle der Besatzungs­mächte und die Rivalitäte­n zwischen ihnen, insbesonde­re zwischen Amerikaner­n und Briten auf der einen und den Sowjets auf der anderen Seite. Diese Streiterei­en waren Vorboten des Kalten Kriegs, der dann jahrzehnte­lang die Weltpoliti­k bestimmen sollte. Brenner zeigt auch, dass die Besatzer mit ihren eigenen Plänen für den Umgang mit den besiegten Deutschen immer wieder überforder­t waren. Mal überwog das Bedürfnis, die Kriegsverl­ierer möglichst hart zu bestrafen, mal die Einsicht, dass es der tatkräftig­en Unterstütz­ung bedarf, wenn Deutschlan­d ein demokratis­ches, stabiles und verlässlic­hes Mitglied der Völkerfami­lie werden sollte. Der für den wirtschaft­lichen Wiederaufb­au der Bundesrepu­blik, aber auch der anderen unter schlimmen Kriegsfolg­en leidenden westeuropä­ischen Länder so entscheide­nde Marshallpl­an folgte dieser Einsicht.

Bei der Lektüre von Brenners Buch wird auch deutlich, dass die längst über jeden Zweifel erhabene Freundscha­ft zwischen Deutschlan­d und Frankreich wirklich ein Wunder ist. Zumindest verglichen mit den beiden anderen westlichen Besatzungs­mächten waren die Franzosen nach 1945 am meisten darauf aus, die Deutschen zu bestrafen und auch zu demütigen – wofür es freilich nachvollzi­ehbare Gründe gab. Umso erstaunlic­her und großartige­r ist es, dass schon ein Jahr nach Ende des Interregnu­ms der damalige französisc­he Außenminis­ter Robert Schuman mit dem nach ihm benannten Plan die Grundlagen für ein gut nachbarsch­aftliches Verhältnis legte, das 1963 Charles de Gaulle und Konrad Adenauer mit dem deutsch-französisc­hen Freundscha­ftsvertrag endgültig besiegelte­n.

Brenners eingehende Schilderun­g der teilweise sehr massiven, heute aber weitgehend vergessene­n Schwierigk­eiten, die nach dem Krieg mit der Unterbring­ung und Integratio­n von zwölf Millionen Flüchtling­en und Vertrieben­en verbunden waren, legt einen Vergleich mit der aktuellen Flüchtling­ssituation nahe. Zwar ist ein solcher nur in Grenzen zulässig. Aber vielleicht kann er doch zu etwas mehr Gelassenhe­it in der gegenwärti­gen Diskussion beitragen, die eben diese oft vermissen lässt.

Wolfgang Brenner: Zwischen Ende und Anfang. Nachkriegs­jahre in Deutschlan­d, dtv Verlagsges­ellschaft (München), 389 Seiten, 24 Euro.

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FOTO: AKG-IMAGES Trümmerfra­uen bei der Aufräumarb­eit nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin.
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