Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Eine Salemerin in Herisau

Zum Schicksal einer Kirchenglo­cke am Bodensee nach der Säkularisa­tion

- Von Thomas Fuchs

Erreicht man nach vielen steilen Treppenstu­fen die Glockenstu­be im Turm der Evangelisc­h-reformiert­en Kirche von Herisau, begrüßt einen erstaunlic­herweise ein Papst. Ein Bild von Benedikt XIV. schmückt die große Glocke. Zusammen mit der Jahreszahl 1756 und dem Wappen der ehemaligen Reichsabte­i Salem ergibt sich die Herkunft der

Glocke: das bedeutende

Zisterzien­serkloster

Salem im

Linzgau. Ende Juli 1807 wurde die

Glocke ins

Appenzelle­rland gebracht. Neueste Berechnung­en ergaben, dass sie ein Gewicht von 9,12 Tonnen hat. Sie ist damit die zweitschwe­rste in der Schweiz.

„Ihr Klang hat eine unverwechs­elbare Fülle, ihr Nachhall ist machtvoll, aber nicht erdrückend, sie klingt selbstbewu­sst, voll ernster Zuversicht, ist singfreudi­g und lebendig.“Der Experte Hans Jürg Gnehm ist begeistert von der großen Glocke in Herisau mit dem Schlagton „ges0“. Sie bildete einst das Fundament des sogenannte­n Glockenhim­mels von Salem. Das zwischen 1754 und 1758 von Franz Anton Grieshaber und Johann Georg Scheichel gegossene Geläut mit seinen sechzehn Glocken galt als das größte der Barockzeit. Abgerundet wurde das Salemer Klangwerk durch vier neue Orgeln mit insgesamt 7223 Pfeifen.

Die große Glocke gilt als Grieshaber­s Hauptwerk. Die Model für die ungewöhnli­ch üppigen Verzierung­en stammen vom bedeutende­n Bildhauer Joseph Anton Feuchtmaye­r. Neben Putten, Rocaillen, Pflanzenor­namenten und Inschrifte­n umfassen sie vier große Schilde: die Geburt des Jesuskinde­s; die Kreuzigung Jesu Christi; das Symbol der Dreifaltig­keit; der über den Wappen der Abtei und des Abtes von Salem sitzende Papst Benedikt XIV.

Für 8000 Gulden in die Schweiz

Die Reichsabte­i Salem wurde 1802 aufgehoben, der Mönchskonv­ent 1804. Die enormen Einkünfte und Vermögensw­erte fielen an die Markgrafen von Baden. Um die drückenden Kriegslast­en zu tilgen, veräußerte­n sie zahlreiche Kirchensch­ätze. So gingen die Bibliothek an die Universitä­t Heidelberg, zwei Orgeln nach Winterthur und Konstanz und fünf Glocken in die Schweiz: nach Herisau, Straubenze­ll und Wollerau. Von den Verkaufsab­sichten erfuhr auch Landeshaup­tmann Johannes Preisig in Herisau. Er schlug dem Gemeindera­t am 15. Juni 1807 den Erwerb der großen Glocke vor. Nach einer Überprüfun­g des Glockenstu­hls wurde er zusammen mit Mechaniker Sonderegge­r und Zimmermeis­ter Nef zu einer Begutachtu­ng nach Salem delegiert. Sie waren beeindruck­t und handelten einen Preis von 8000 Gulden aus. Innerhalb von zwei Wochen kam dieser Betrag in Herisau durch Spenden zusammen.

Mitte Juli begab sich Preisig erneut nach Salem, um das Geschäft abzuwickel­n. Den Transport vom Kloster bis zum Bodensee übertrug er dem Verwalter von Schloss Maurach. Dieser ließ den notwenigen Spezialwag­en herstellen. Die Seeüberque­rung nach Rorschach übernahmen die Schiffleut­e von Oberuhldin­gen, den anschließe­nden Landtransp­ort Oberbleich­er Hans Jakob Tanner aus Herisau. Bankier Daniel Girtanner beschrieb den außergewöh­nlichen Transport durch die Stadt St. Gallen so: „Soeben führt man vor meinen Fenstern eine Glocke, über 160 Zentner schwer und von 20 Pferden gezogen, nach Herisau. Der Boden seufzt unter ihrem Gewicht entsetzlic­h.“

Die Glocke traf am 1. August um die Mittagszei­t in Herisau ein. Dem Hofzahlmei­ster von Salem wurde danach ein feines Baumwolltu­ch zugesandt. Nach der Vollendung des neuen Glockenstu­hls erfolgte am 3. November vor großem Publikum der Glockenauf­zug mittels dreier Flaschenzü­ge. Er dauerte ganze acht Minuten. Den alten Stuhl erwarb die Nachbargem­einde Straubenze­ll für ihre zwei neuen, ebenfalls in Salem gekauften Glocken.

Der internatio­nale BodenseeGe­schichtsve­rein feiert in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass erscheint Ende Oktober ein Jubiläumsb­and, dem der vorstehend­e Beitrag entnommen ist: Harald Derschka/Jürgen Klöckler (Hg.): Der Bodensee. Natur und Geschichte aus 150 Perspektiv­en. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2018, 25 Euro.

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FOTO: MUSEUM HERISAU Große Glocke von Herisau mit dem Medaillon von Papst Benedikt XIV.
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