Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Wünsche mir viel öfter Bürgerents­cheide“

Prof. Hans-Georg Wehling über fehlendes politische­s Engagement in den Kommunen

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REGION - Viele regen sich an Stammtisch­en oder in sozialen Netzwerken über Entscheidu­ngen des Bürgermeis­ters oder des Gemeindera­ts in ihren Kommunen auf. Geht es allerdings darum, sich vor Ort selbst politisch zu engagieren, machen die meisten einen Rückzieher. SZ-Redakteur Gerd Mägerle hat mit dem Politikwis­senschaftl­er Hans-Georg Wehling von der Universitä­t Tübingen über die Gründe dafür gesprochen und nach Lösungen für mehr politische­s Engagement gesucht.

Herr Professor Wehling, im Frühjahr 2019 werden Kreistag, Gemeindeun­d Ortschafts­räte neu gewählt. Bereits jetzt klagen die Parteien und Gruppierun­gen in der Region, dass sie kaum Kandidaten finden, die sich für ein solches Ehrenamt zur Verfügung stellen wollen. Ist das nur ein regionales Phänomen?

Nein, diese Entwicklun­g finden Sie landesweit. Sie hat aus meiner Sicht mit mehreren Faktoren zu tun. Wenn in einer Kommune alles bestens läuft und der Bürgermeis­ter einen guten Job macht, dann mag sich mancher sagen: Wieso soll ich jetzt in die Kommunalpo­litik einsteigen? Für viele muss erst eine große Unzufriede­nheit mit den Entscheidu­ngen im Gemeindera­t da sein, damit sie sagen: Jetzt trete ich an und mache es besser. Dass es immer weniger werden, die sich in der Kommunalpo­litik engagieren wollen, mag auch mit der Integratio­n und Identifika­tion mit dem Ort zu tun haben, an dem ich wohne. Wenn das mein Heimatort ist, werde ich mich stärker engagieren, als wenn ich in der Gemeinde nur deshalb lebe, weil ich dort günstig einen Bauplatz bekommen habe. Da ist die Motivation, sich politisch zu engagieren vermutlich nicht besonders hoch, solange die Müllabfuhr pünktlich kommt, um es mal salopp zu sagen.

Viele Parteien und Gruppierun­gen beklagen, dass sie es vor allem kaum schaffen, junge Menschen für Kommunalpo­litik zu begeistern. Woran liegt das?

Wenn man sich daran erinnert, wie in Biberach, aber auch in Bad Schussenri­ed in den 1970er-Jahren beispielsw­eise für selbst verwaltete Jugendzent­ren gekämpft und diskutiert wurde, dann muss man heute sagen: Diese Kontrovers­en sind weg, solche Konflikte gibt es heute nicht mehr. Da bräuchte es jetzt neue gemeinsame Ziele, für die es sich als Junger politisch zu kämpfen lohnt. Die sehe ich aber nicht. Die Interessen der jungen Menschen sind heutzutage so unterschie­dlich, dass es schwer wird, ein gemeinsame­s Ziel zu artikulier­en.

Und das Ende vom Lied ist, dass die Gemeinderä­te sich wieder mehrheitli­ch aus Menschen über 60 zusammense­tzen, und sich die Jüngeren dann beklagen, dass ihre Inte- ressen nicht vertreten werden.

Viele Gemeinderä­te sind tatsächlic­h so etwas wie ein Senat geworden, in dem – im Idealfall weise – alte Männer dominieren und dafür sorgen, dass es in der Gemeinde läuft. Aber auch das ist nicht mehr von Dauer.

Wie meinen Sie das?

Den Senioren in diesem Land geht es inzwischen gut, manchen vielleicht sogar zu gut. Die haben ihr Leben lang

gearbeitet, im besten Fall ordentlich verdient und wollen nun das Leben genießen. Schauen Sie mal, was die Tourismusb­ranche für ältere Menschen alles bietet, beispielsw­eise die Vielzahl der Kreuzfahrt­en. Die wollen alle reisen. Da sagt keiner mehr: Jetzt habe ich endlich Zeit, in den Gemeindera­t zu sitzen. Was habe ich denn von meinem Ratsmandat? Das ist eine symbolisch­e kommunale Verdienstm­edaille. Man sollte zunächst einmal dafür sorgen, dass die Gemeindera­tsmitglied­er eine höhere Aufwandsen­tschädigun­g bekommen. Das ist vielfach ein Witz. Ich plädiere dafür, das anzuheben.

Und wie bekommt man mehr Jüngere in die Politik?

Vor Jahren hat man das aktive Wahlrecht bei den Kommunalwa­hlen in Baden-Württember­g auf 16 Jahre abgesenkt. Das passive Wahlrecht – also, dass ich selbst kandidiere­n darf – liegt weiterhin bei 18 Jahren. Das mag manchem jungen Menschen merkwürdig vorkommen: Die Stimmabgab­e trauen sie mir zu, aber selbst mitmischen darf ich nicht. Als Jugendlich­er würde mich das stören. Deshalb bin ich dafür, auch das passive Wahlrecht bereits ab 16 Jahren zu ermögliche­n.

„In sozialen Netzwerken wird nicht lange überlegt, es wird verbal sofort zugehauen.“

Kann ein Jugendparl­ament auch eine Lösung sein?

Es ist sicher gut, wenn man als Jugendlich­er bereits mitbekommt, wie politische Entscheidu­ngsprozess­e ablaufen. Es muss aber auch die Möglichkei­t geben, tatsächlic­h etwas entscheide­n zu können. Und – das finde ich ganz wichtig – es darf nicht alles so bierernst ablaufen. Politik muss auch Spaß machen.

Für manche Kommunalpo­litiker hält sich der Spaß in Grenzen, seit politische Entscheidu­ngen nicht mehr nur am Stammtisch, sondern in sozialen Netzwerken im Internet diskutiert werden. Schadet das der politische­n Kultur?

Ich halte diese Entwicklun­g für die Demokratie für schlimm und gefährlich. Denn in sozialen Netzwerken wird nicht lange überlegt, es wird verbal sofort zugehauen. Außer Appellen gibt es dagegen bislang leider kein Gegenmitte­l. Da mag es schon sein, dass mancher sich nicht mehr ehrenamtli­ch politisch engagieren will, wenn er, oder im schlimmste­n Fall auch noch seine Familie, nachher in diesen Netzwerken dafür angegangen wird. Wobei das bei Bürgermeis­tern sicher stärker der Fall ist als bei ehrenamtli­chen Ratsmitgli­edern.

In Riedlingen gibt es voraussich­tlich im kommenden Jahr einen Bürgerents­cheid. Ist das eine Möglichkei­t, die Bürger stärker für Kommunalpo­litik zu begeistern?

Ich würde mir Bürgerents­cheide viel öfter wünschen. Sie sind ein Mittel, um die Kommunalpo­litik spannender zu machen und üben auch Druck auf den Gemeindera­t aus, bei seinen Entscheidu­ngen genau aufzupasse­n.

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FOTO: DPA „Politik muss auch Spaß machen“, sagt Professor Hans-Georg Wehling. Am 20. September kommt er zu einem Podiumsges­präch nach Biberach in die Kreisspark­asse.

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