Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Ohne Filter“:
Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“in Zürich überzeugt
Sänger Bernie Conrads blickt zurück auf wilde Zeiten
ZÜRICH - Ziemlich genau 100 Jahre nach der Frankfurter Uraufführung von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ist nun die neue Spielzeit am Opernhaus Zürich mit diesem bedeutenden Musikdrama eröffnet worden. Die in jeder Beziehung glanzvolle Neuproduktion wurde bei der Premiere vom Publikum enthusiastisch gefeiert. Der rauschende Beifall galt dem Regieteam um Barry Kosky ebenso wie den Gesangssolisten, dem Chor und dem riesigen Orchester unter der Leitung des Dirigenten Vladimir Jurowski.
Das von Schreker zunächst für seinen Komponistenkollegen Alexander Zemlinsky geschriebene, dann aber selbst vertonte Libretto der „Gezeichneten“führt in die Renaissancezeit. Der reiche, aber missgestaltete Salvago hat auf einer Insel vor Genua eine vom banalen Alltag isolierte Welt des Schönen und Starken einrichten lassen, in der Kunst und Leben utopisch zueinanderfinden sollen. Junge Adlige, denen er dieses „Elysium“überlassen hat, feiern dort in einer verborgenen Höhle Orgien und missbrauchen entführte Bürgerstöchter.
Salvago ahnt, dass die praktische Umsetzung seiner Vision aus dem Ruder läuft. Er möchte die Insel der Stadt als Freizeitpark schenken, lädt den Bürgermeister ein und ist von dessen Tochter Carlotta fasziniert. Sie ist Malerin und möchte den schüchternen Salvago porträtieren. Es reizt sie, ihn aus der Reserve zu locken. Nach Fertigstellung des Bilds verliert sie jedoch das Interesse an ihm und entflammt ausgerechnet für Tamare. Als sie sich sterbend dem Vergewaltiger hingibt, kommt Salvago dazu, ersticht den hohnlachenden Rivalen und wird wahnsinnig.
Schreker zählte in den 1920er-Jahren zu den erfolgreichsten Opernkomponisten neben Puccini und Strauss. 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung aus seinen Ämtern gejagt. Ein Jahr später starb er. Aufführungen seiner Werke wurden von den Nazis verboten. Das Verdikt wirkte noch lange nach. Erst 1979 kamen die „Gezeichneten“in Frankfurt wieder auf die Bühne. Seither gab es zahlreiche Neuinszenierungen. Im vergangenen Jahr wurde die Oper unter anderem in Berlin, St. Gallen und München gespielt.
Alptraumhafte Bilder
Barry Kosky erzählt die „Handlung“in Zürich als spannenden Psychokrimi über Salvagos Innenwelt. Tamare und seine Clique sowie weitere Protagonisten treten als Spukgestalten seiner abgespaltenen, nach außen projizierten Triebe auf. Schuldgefühle, verdrängte Aggressionen und sexuelle Wünsche kochen in alptraumhaften Bildern hoch. Schrekers Konstellationen nehmen musiktheatralisch viel von dem vorweg, was Sigmund Freud später in seinem Buch „Unbehagen in der Kultur“theoretisch ausformuliert hat.
Rufus Didwiszus (Bühne) und Klaus Bruns (Kostüme) haben packende Bilder für diesen Raum unterdrückter Seelenanteile gefunden. Farblose, oft auf Torsoform reduzierte Menschenskulpturen in edelgrauem Ausstellungsraum stehen für sublimierte Körperlichkeit. Franck Evin (Licht) taucht die Höhle der Frauenschänder kongenial zu Schrekers frei flutenden Klangwelten in fahl illuminierte Nebelschwaden. Das künstliche Paradies entpuppt sich hier sinnfällig als Hölle. Bei Korsky hat Salvago nur Armstummel. Carlotta formt ihm aus Lehm künstliche Hände. Deren überdimensionale Schatten verfolgen ihn am Ende in den Wahnsinn.
Der britische Tenor John Daszak bewährt sich als vokal und darstellerisch grandioser Salvago. Catherine Naglestad, die wie Daszak im vergangenen Jahr an der Bayerischen Staatsoper Erfahrungen mit dieser Oper sammeln konnte, setzt Carlottas zwiespältigen Charakter stimmlich und theatralisch kongenial in Szene. Auch Thomas Johannes Mayer (Tamare), Christopher Purves (Herzog Adorno), Albert Pesendorfer (Podestà) und weitere Solisten singen beachtlich. Jurowski zeigt Gespür für Schrekers narkotische Verbindungen raffinierter Farbwerte mit dissonanzgeschwängerten Harmonien.
Der von Janko Kastelic sorgfältig auf seine schwierige Aufgabe vorbereitete Chor und die Philharmonie Zürich machen ihre Sache großartig. Leider hat sich Jurowski aufgrund von Vorbehalten gegen die vermeintlich weitschweifige, in Wirklichkeit radikal moderne Partitur zu Kürzungen entschlossen, die er sich nach eigenem Bekunden bei Puccini oder Alban Berg nie erlauben würde. Korskys konziser Inszenierung mögen sie immerhin dienlich sein.
Weitere Vorstellungen am 26. September, 2., 9., 12., 17., 20. und 23. Oktober. Karten unter: