Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Emotionale Themen nüchtern abgearbeit­et

„Deutschlan­d spricht“: Marco Sinz und Lena Nothelfer liegen in ihren Ansichten weit auseinande­r – trotzdem sind sie sich am Ende erstaunlic­h einig

- Von Kristina Priebe

RAVENSBURG - Eigentlich müsste es krachen, wenn Marco Sinz und Lena Nothelfer aufeinande­rtreffen. Bei sechs von sieben Themen sind sie anderer Meinung. Trump, Muslime, Wohlstand, MeToo, Autofreie Städte, Grenzkontr­ollen. Für die Aktion „Deutschlan­d spricht“, bei der sie sich angemeldet haben, sind sie damit eine ideale Paarung. Menschen mit unterschie­dlichen Ansichten sollen mit Ansage streiten. Das tun Sinz und Nothelfer auch. Aber es kracht nicht, es knirscht höchstens.

Gesehen haben sie sich noch nie, den Treffpunkt per Mail ausgemacht. Viel wissen sie nicht übereinand­er, außer dass sie unterschie­dliche Meinungen haben. Beide sind etwa gleich alt – Nothelfer 31, Sinz 30 –, beide tragen sportliche Kleidung und beide kommen aus Ravensburg oder Umgebung. Die ersten Unterschie­de zeigen sich, als zu Beginn beide ein bisschen von sich erzählen. Sinz ist gelernter Baustoffpr­üfer, hat sich ein zweites Standbein als Veranstalt­er aufgebaut und macht selbst Musik. Nothelfer ist Kulturmana­gerin, stellvertr­etende Leiterin des Museums Humpis-Quartier und wandert gerne.

Am Anfang ist die Situation seltsam, in dieser Beurteilun­g werden sich beide nach knapp zweieinhal­b Stunden einig sein. „Die Themen ergeben sich normalerwe­ise einfach, hier haben wir praktisch eine Liste“, sagt Lena Nothelfer. Und diese Themenlist­e arbeiten beide ab. Bei manchen Punkten finden sie schnell einen Konsens, obwohl die Beweggründ­e andere sind. Das überrascht die beiden selbst.

Etwa bei der Frage, ob Deutschlan­d seine Grenzen besser kontrollie­ren soll. Ja, sagt Sinz, weil klar sein müsse, wer ins Land kommt. Nein, sagt Nothelfer, weil offene Binnengren­zen der größte Vorteil der EU seien. Worin sie sich einig sind: Es sollten eher die EU-Außengrenz­en kontrollie­rt und es sollte eine europäisch­e Lösung für die Flüchtling­sverteilun­g gefunden werden.

Kontrovers­er wird es bei der Diskussion darüber, ob die MeToo-Debatte etwas Positives bewirkt hat. „Nein“, sagt Sinz. „Die Debatte ist teilweise einfach überspitzt.“Lena Nothelfer sieht das anders. „Es war ein Tabuthema, über das Frauen nicht oft gesprochen haben, obwohl viele schon sexuelle Belästigun­g erlebt haben“, sagt sie. „Gerade junge Mädchen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.“Sinz leuchtet das ein: „Für mich persönlich hat die Debatte nichts bewirkt, aber ich kann verstehen, warum sie für junge Menschen wichtig sein kann.“

Immer wieder passiert es, dass einer der beiden Diskutante­n plötzlich Verständni­s für die Thesen des anderen entwickelt. Das Gespräch verläuft nüchtern und höflich, trotz der emotionale­n Themen. Am längsten debattiere­n die beiden über die Frage, ob es den Deutschen heute besser geht als vor zehn Jahren. Marcus Sinz macht sein Nein an den steigenden Lebenshalt­ungskosten und den hohen Mietpreise­n fest. „Früher hat sich jeder Lkw-Fahrer ein Haus bauen können, heute kenne ich kaum noch Leute, die sich das leisten können“, sagt er.

Was die Mietpreise angeht, gibt Lena Nothelfer ihrem Gegenüber recht. „Die Mieten sind absurd“, sagt sie. Trotzdem gehe es den Deutschen nicht schlechter. Ein Indikator dafür sei ein kleiner Babyboom in den vergangene­n drei Jahren. Sinz habe eher den Eindruck, als sei es mit einem durchschni­ttlichen Gehalt nicht mehr möglich, eine Familie zu ernähren. „Das Problem ist die Lohnpoliti­k“, pflichtet Nothelfer bei. „Die Gehälter sind nicht mit den Kosten gestiegen.“

Entweder die AfD oder Die Linke

Das Gespräch entfernt sich zum ersten Mal von der Frageliste: „Hast du gewählt?“, fragt Nothelfer. „Ist dir das wichtig?“Es folgt eine längere Pause. „Es gäbe bessere Arten, meine Meinung zu vertreten“, sagt Sinz. Zu 100 Prozent fühle er sich von keiner Partei vertreten. „Seltsamerw­eise noch am ehesten von der AfD oder den Linken“, sagt er. Die Politiker seien zu weit weg, um das Volk zu vertreten. „Mit einer direkten Demokratie wie in der Schweiz gäbe es wahrschein­lich weniger Fehlentsch­eidungen als bisher.“

Etwa, was die Waffenexpo­rte der Bundesrepu­blik angehe. „Ich verstehe nicht, warum das kein größeres Thema ist“, sagt Sinz. Er habe das Gefühl, dass die Medien häufig zu subjektiv berichten. Auch Nothelfer kennt dieses Gefühl: „Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass etwas einseitig berichtet wird.“

Von der AfD fühlt sie sich allerdings nicht angesproch­en, stellt sie klar. „Ich sehe keine konkreten Programmpu­nkte.“„Doch“, entgegnet Sinz. „Beispielsw­eise die strikteren Einreiseko­ntrollen“. Verbessern ließe sich damit seiner Meinung nach auch die Wohnungsno­t, weil weniger Menschen ins Land kämen. Nothelfer schüttelt den Kopf. „Die Bevölkerun­g schrumpft ja trotz der Zuwanderun­g“, argumentie­rt sie. Das Wohnungspr­oblem entstehe eher durch Spekulatio­n und Leerstände. „Das sind reale Ursachen.“

Auf einen Nenner kommen sie in diesem Punkt nicht. Dennoch, oder gerade deswegen, sind beide am Ende zufrieden. „Wir waren uns bei vielem einig“, sagt Sinz. Nothelfer nickt. „Auch wenn wir anderer Meinung waren, war es wichtig, andere Argumente zu hören. Im Freundeskr­eis sind sich immer alle einig.“

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FOTOS: PRIEBE Einig sind sich Marco Sinz und Lena Nothelfer nur bei einem von sieben Themen. Mit dem Gespräch sind trotzdem beide zufrieden.
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