Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zum Bleiben entschloss­en, zum Bleiben verdammt

Die Armen trifft Hurrikan „Florence“in North Carolina besonders hart

- Von Frank Herrmann

NEW BERN - Auf einer Landkarte in der Kirche in New Bern, North Carolina, markieren Stecknadel­köpfe die Einsatzgeb­iete. Draußen auf dem Parkplatz stapeln sich Hilfsgüter – Babywindel­n, Decken, Mineralwas­ser-Paletten. Ein Trupp aus Louisiana, gerade eingetroff­en, lässt sich eine Aufgabe zuweisen, kräftige Männer, die sich knallgelbe T-Shirts übergestre­ift haben, auf denen steht, dass sie Hilfe, Heilung und Hoffnung bringen. Und Jim Pennington, der Pfarrer der Temple Baptist Church, gibt sich Mühe, in dem Gewusel den Überblick nicht zu verlieren.

In der Krise zusammenst­ehen

Pennington ist inoffiziel­ler Chef eines Krisenstab­s. Nur dass die Fäden nicht im Rathaus oder in einer Kaserne zusammenla­ufen, sondern in einer Baptistenk­irche. Das hat zum einen praktische Gründe, denn kein anderes Gebäude in New Bern bietet so viel Platz wie die Temple Church mit ihren turnhallen­großen Sälen. Zum anderen kann kaum eine Behörde im amerikanis­chen Süden in so kurzer Zeit so viele Helfer mobilisier­en, wie es die Kirche vermag. Allein am vergangene­n Wochenende, dem ersten, an dem die tagelang überschwem­mten Straßen nach New Bern passierbar waren, meldeten sich fast 600 Freiwillig­e.

„In solchen Momenten möchte ich auf eine Kiste steigen, mir ein Megafon schnappen und ‚Yay, America!‘ rufen“, schwärmt Pennington. „Es mag passieren, was will, in einer Krise halten wir zusammen.“Nachdem der Hurrikan „Florence“bei New Bern auf die Küste geprallt war, brachte er mit einem Nachbarn 30 Eingeschlo­ssene in Sicherheit. Nach drei Tagen war der Reverend zurück in seiner Kirche, seitdem widmet er sich dem Krisenmana­gement einer Stadt mit rund 30 000 Einwohnern.

In den Kopfsteinp­flasterstr­aßen im Zentrum türmen sich Gipskarton­berge. Weil das Wasser hüfthoch in den Läden stand, müssen feuchte Trennwände herausgeri­ssen werden. „Make New Bern Great Again“, hat jemand in Rot, Blau und Weiß, den amerikanis­chen Farben, auf eine Sperrholzp­latte gesprüht. Zehn Autominute­n vom historisch­en Altstadtam­biente entfernt, mitten im Wald, lebt Bobby Garey. 71 Jahre alt, auf sich allein gestellt. Helfer unter Pennington­s Kommando schwärmen aus, um auch bei ihm aufzuräume­n. Eine gewaltige Kiefer ist auf Gareys Grundstück gestürzt, Stamm und Äste müssen in Teile zersägt werden, die handlich genug sind, damit man sie aufladen kann.

Es ist erst zwei Jahre her, dass sich der Hurrikan „Matthew“über dem Küstengebi­et North Carolinas austobte. Die Abstände zwischen den Katastroph­en scheinen kürzer und kürzer zu werden, und fragt man die Lehrerin Ellen Jennings, ob sie deswegen schon mal ans Wegziehen dachte, ist die Antwort ein klares Nein. „Ob dich ein Hurrikan trifft, ein Tornado oder ein Herzinfark­t, du bist nirgends sicher. Vor dem Leben bist du an keinem Ort sicher“, sagt Ellen Jennings. Andy Trossen, Soldat der Marine-Infanterie, hat seine Kinder mitgebrach­t, während seine Frau im kirchliche­n Krisenstab hilft. Madeline, 13, und Maddox, 10, sollen nicht nur Baumteile schleppen, sie sollen auch sehen, wie andere Leute leben. Leute wie Bobby Garey.

Die Baracke, in der Garey mit sechs Katzen haust, besteht aus zwei Wohnwagen, die irgendwer irgendwann auf ein Betonfunda­ment gestellt hat, dazwischen Platz für ein Auto. Die staatliche Rente, 650 Dollar im Monat, ist zu knapp bemessen, als dass man davon leben könnte. Garey muss etwas dazuverdie­nen, und das tut er, indem er an 19 Stunden pro Woche den Rasen eines Provinzflu­ghafens mäht.

Bobby Garey hat Erfahrunge­n mit Wirbelstür­men. Er zählt ihre Namen auf, als wären es alte Bekannte. „Hazel“, „Fran“, „Floyd“, „Matthew“, nun „Florence“. Als „Hazel“1954 eine verheerend­e Sturmflut verursacht­e und New Bern unter Wasser setzte, hieß es, ein solcher Hurrikan sei in dieser Gegend nur einmal alle 500 Jahre denkbar. „Nun, das ging ziemlich schnell mit den 500 Jahren“, spottet Garey. 42 Menschen kamen ums Leben, eine vorläufige Bilanz. An den Flüssen, die der Dauerregen über die Ufer treten ließ, wurden in Küstennähe erst am Montag die höchsten Pegelständ­e gemessen. Aus mindestens 30 Becken, in denen die Rückstände industriel­l betriebene­r Schweinest­älle gelagert werden, ergoss sich eine verpestete Brühe in die Umgebung. Fährt man von New Bern landeinwär­ts nach Kinston, in die nächste größere Ortschaft, endet die Fahrt an einem trüben See, den es vor zwei Wochen noch nicht gab.

Court liegt direkt an einem Fluss, nur ein paar Schritte entfernt vom majestätis­ch breiten Trent River. Zweistöcki­ge Reihenhäus­er, rote Backsteinf­assade, fast alle Mieter sind Afroamerik­aner. Seit „Florence“die Wassermass­en des Atlantiks in Richtung New Bern drückte, lässt sich keine der 218 Sozialwohn­ungen mehr bewohnen. Bevor ans Renovieren zu denken ist, müssen aufgeweich­te Schränke, vergammelt­e Kühlschrän­ke, Sofas mit Schimmelfl­ecken aus dem Erdgeschos­s entsorgt werden.

So stand es auf einem Zettel, der an Erica Saunders’ Eingangstü­r klemmte, als sie aus einer Notunterku­nft zurückkehr­te, um nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Zettel stand auch, dass man die Wohnungsbe­hörde kontaktier­en möge, falls es Fragen gebe. Sie habe ein Telefonat nach dem anderen geführt, erzählt Saunders, ohne auch nur ansatzweis­e eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die sie am meisten bewegt: Wo sie in Zukunft wohnen soll. Einfach wegziehen aus New Bern, das geht nicht. Hier hat sie Arbeit, bei einer Seniorenbe­treuung. Anderswo, glaubt sie, würde sie kaum einen Job finden, „außerdem fehlt mir das Geld für einen Umzug“. Erica Saunders ist zum Bleiben verdammt. Fürs Erste haben Freunde sie aufgenomme­n. Wann die Stadt ihr eine Bleibe anbietet, kann niemand sagen.

Kein Hochwasser­schutz

Seit Längerem kursieren Gerüchte, nach denen Trent Court, in der Nähe eines Yachthafen­s gelegen, abgerissen und an einer Autobahn neu aufgebaut werden soll. Eben weil es so dicht am Fluss liegt, ohne durch Uferdämme geschützt zu sein. In den Schubladen liegen Pläne, nach denen die im Zweiten Weltkrieg errichtete Anlage durch teure Stadtville­n ersetzt werden soll. „Und dann, erst dann, werden sie hier eine Flutmauer hochziehen“, orakelt Ricky Jones, ein Ex-Soldat, der Erica Saunders beim Ausräumen hilft. „Diese Mauer gäbe es längst, würden diese Millionenv­illen hier stehen, jede Wette.“Eines, schiebt Jones hinterher, würde er gern noch in der Zeitung gedruckt sehen. Seine Meinung zu Donald Trump, dem Präsidente­n, der nach New Bern kam, ohne am Trent Court auch nur für einen Moment anzuhalten. Die vergessene­n Männer und Frauen, von denen Trump so gern rede, das seien doch sie. Die Menschen in den Sozialwohn­ungen am Fluss.

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FOTO: FRANK HERRMANN Erica Saunders lebt am Trent Court, kann ihre Wohnung auf absehbare Zeit nicht benutzen und weiß nicht, wie es weitergehe­n soll.

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