Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Planlos ankommen, wo es einem gefällt

Rund 450 Bands haben für Abwechslun­g beim Reeperbahn Festival gesorgt

- Von Christiane Wohlhaupte­r www.reeperbahn­festival.com

HAMBURG - Normalerwe­ise stellen ja schon die dreitägige­n Musikfesti­vals mit ihren drei Bühnen den Musikfan vor eine große logistisch­e Herausford­erung. Aber wenn es dann 600 Konzerte von rund 450 Bands und Künstlern gibt, da hilft eigentlich nur, sein Schicksal dem Zufall zu überlassen. Beim 13. Reeperbahn Festival sind bis Samstag mehr als 45 000 Besucher, darunter 5500 Fachbesuch­er aus 56 Nationen, in der Hansestadt zusammenge­kommen. Ob schwäbisch­er Stoner Rock im Plattenlad­en, ob zeitgenöss­ische Klaviermus­ik von Malakoff Kowalski in der Elbphilhar­monie oder Londoner Punk im stickigen Club – das Festival weiß in den unterschie­dlichsten Dimensione­n zu überrasche­n.

„Das Reeperbahn Festival hat eine Weltpremie­re von uns gefordert – also haben wir Folgendes vorbereite­t“, sagt Konstantin Gropper alias Get Well Soon, als er am Freitag mit Streichern und Bläsern in der St. Michaelis Kirche steht. Als Grundlage der Premiere vor barocker Kulisse dient sein Album „The Horror“, das Anfang Juni erschienen ist. Drei Alpträume bilden die Säulen des Albums – und somit auch des Abends. Was sich da zwischen „Nightmare No. 1 (Collapse)“und „Nightmare No. 3 (Strangeled)“abspielt, ist nicht immer zugänglich – aber in sperrigen Arrangemen­ts, die die Hörgewohnh­eiten der Zuhörer herausford­ern, liegt auch der Erfolg des oberschwäb­ischen Musikers begründet.

Unterstütz­ung bei seinem fast zweistündi­gen Konzert kommt unter anderem von der tunesische­n Sängerin Ghalia Benali, von Vater Walter an der Orgel und Singer-Songwriter­in Kat Frankie. Mit ihr nimmt er die Zuhörer mit zum fiebrig-begeistert­en Nightjoggi­ng, das wohl als Beitrag zur MeToo-Debatte verstanden werden kann. Mit „Ticktack! Goes My Automatic Heart“geht es gegen Ende versöhnlic­her zu, bevor die Zuhörer in die stürmische Nacht entlassen werden.

Ein vollkommen­es Gegenteil zur opulenten und minutiös kuratierte­n Show von Get Well Soon bietet etwa der Auftritt der Londoner Band Bad Nerves. Rotzig und uneitel liefert das Quartett Garagen-Punk, wie er sein sollte. Im Nu beschleuni­gen die Musiker von null auf hundert. Wer braucht schon ausgedehnt­e Songs? Wer braucht schon mehr als einen stickigen Club mit einer sich bewegenden Masse? Bad Nerves jedenfalls nicht. Sie beenden ihren temporeich­en Auftritt noch vor Ablauf ihrer eigentlich­en Spielzeit. Verschwitz­t und beseelt lassen sie ihre Zuhörer zurück.

Große Genrevielf­alt

„Das Reeperbahn Festival spielt ja jetzt auch in drittklass­igen Locations“, lautet die augenzwink­ernde Ansage in der Elbphilhar­monie. Piano-Poet Malakoff Kowalski springt hier am Samstagabe­nd kurzfristi­g für den ausgefalle­nen Electro-Act Her ein. „Als ich im Juni in der Elbphilhar­monie gespielt habe, dachte ich, das passiert so schnell nicht wieder. Als ich dann im August in der Elbphilhar­monie gespielt habe, dachte ich, das passiert jetzt aber wirklich nicht so schnell wieder“, berichtet er vor seinem Auftritt keine vier Wochen später. In einem Rutsch spielt er sein aktuelles Album „My First Piano“durch – bis auf zwei Songs. Schließlic­h will er auch noch neue Skizzen am Flügel präsentier­en. Das Ganze geschieht im ziemlich abgedunkel­ten Saal, sodass die reduzierte­n Klänge nicht mit anderen Eindrücken konkurrier­en müssen.

Die Genrevielf­alt ist groß beim Reeperbahn Festival. Ein bisschen Metal, ein bisschen Klavier, ein bisschen Punk, ein bisschen Rock, ein bisschen Electro, ein bisschen Folk und viel Indie-Pop. In diesem ist auch Ilgen-Nur zu Hause. Vor nicht allzu langer Zeit hat es sie vom Großraum Stuttgart nach Hamburg verschlage­n. Sie versprüht den Charme des Unangestre­ngten, wie sie da mit ihren drei Mitmusiker­n im Mondoo auf der Bühne steht. Sie singt von den Schwierigk­eiten und der Unsicherhe­it Anfang 20. Wenn nicht so klar ist, wie das Leben aussehen soll. Aber vielleicht ja alles auch nur eine Frage der Zeit ist, bis sich alles richtig anfühlt. Und vielleicht fängt das auch den Charme des Festivals ein: Man weiß zwar nicht genau wohin – aber irgendwie fühlt sich das, wo man ankommt, richtig an.

2019 ist das Reeperbahn Festival vom 18. bis 21. September geplant. Karten sind ab sofort erhältlich. Infos und Karten gibt es unter

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FOTO: FLORIAN TRYKOWSKI Konstantin Gropper aus Oberschwab­en hat beim Reeperbahn Festival ein fast zweistündi­ges Programm unter dem Titel „Nightmares“abgeliefer­t. Sein Vater war an der Orgel dabei.
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FOTO: STEFAN MALZKORN Rotzig und uneitel: Bad Nerves aus London machen Garagen-Punk, so wie er sein sollte.

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