Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Weniger bohren, mehr beobachten
Die Zahnmedizin der Zukunft sucht nach Therapien, die wertvolle Zahnsubstanz möglichst lange und unter Aufsicht erhalten
Da ist der Wurm drin“, so sagt man, wenn etwas marode ist. Kein Wunder, dass man einst den Zahnwurm dafür verantwortlich machte, wenn das Gebiss schmerzhaft löchrig wurde. Heute weiß natürlich jeder seit seiner Kindheit, dass für diese zerstörerischen Kräfte Karius und Baktus verantwortlich sind. Diese in Zaum zu halten, ist eine lebenslange Aufgabe für Zahnarzt und Patient. Wobei die Forschung dazu immer wieder neue Erkenntnisse liefert. Heute fokussiert sie sich auf ein modernes, moderates Karies-Management.
Heilen und versiegeln statt bohren und füllen
Statt Bohren und Füllen empfiehlt Sebastian Paris, Professor an der Berliner Charité, seinen Patienten lieber „Heal and Seal“. Was es mit dem „Heilen und Versiegeln“auf sich hat, erläuterte der Leiter der Abteilung für Zahnerhaltungskunde und Präventivzahnmedizin auf der diesjährigen Bodenseetagung der Bezirkszahnärztekammer Tübingen. In seinem Vortrag zeigte er den Weg, den die Zahnmedizin in Zukunft nimmt: weg von der radikalen Maximallösung, hin zu Therapien mit Schonung der Zahnhartsubstanz.
Jedes halbe Jahr zur Kontrolle ist zu pauschal
Doch das Karies-Management beginnt bereits bei der Prophylaxe. Jedes halbe Jahr zur Kontrolle beim Zahnarzt – das ist Standard. Wer um seine Zähne besorgt ist, folgt dieser Empfehlung. Doch laut Sebastian Paris ist diese Regel zu pauschal. Für den einen würde auch ein größerer zeitlicher Abstand reichen, für den anderen ist der Zeitraum zu kurz bemessen. Denn wer die Zähne ungenügend putzt, zu viel Zucker isst oder unter einem schlechten Speichelfluss leidet, der hat ein deutlich höheres Risiko, an Karies zu erkranken, als jemand, für den alle drei Faktoren nicht zutreffen.
Eine Zuckersteuer würde der Zahngesundheit helfen
Nun funktioniert die Prophylaxe bei den Kindern schon sehr gut. 80 Prozent der 12-Jährigen haben ein kariesfreies bleibendes Gebiss, wie eine Studie der Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege belegt. Diese Erfolgsgeschichte ist nach Expertenmeinung zu einem großen Teil dem regelmäßigen Zähneputzen und dem Einsatz von Fluoriden in Zahncremes und Zahnlacken zu verdanken. Um diese Zähne aber ein Leben lang gesund zu erhalten, sind weiterhin eine kontinuierliche Pflege und gesunde Ernährung von entscheidender Bedeutung.
Laut Paris wäre deshalb auch eine Zuckersteuer sinnvoll, und zwar nicht nur im Hinblick auf Diabetes und Fettleibigkeit, sondern auch auf Karies. Der Gebrauch von Interdentalbürsten und Zahnseide gehört zur Zahnpflege ebenfalls dazu. Doch dazu bedarf es einer gewissen Geschicklichkeit. Diese lässt aber im Alter nach, genauso wie der Speichelfluss, der für die Reinigung der Mundhöhle und eine Remineralisierung der Zähne sorgt. Deshalb sollte man laut Paris öfter einmal zu zuckerfreiem Kaugummi greifen und so den Speichelfluss anregen.
Karies mit flüssigem Kunststoff behandeln
Wenn dann der Zahn doch Fissuren – kleine Risse auf der Oberfläche – aufweist, hat sich eine Versiegelung als sehr effektiv erwiesen. Zeigt sich bereits eine Zahnerkrankung im Anfangsstadium, ist für Paris die Kariesinfiltration das Mittel der Wahl. Bei diesem Verfahren wird ein flüssiger Kunststoff aufgetragen, der in das Porensystem des Zahnschmelzes eindringt und es verschließt. Die Karies kann sich so nicht mehr weiter verbreiten.
Doch galt nicht früher die Regel, dass bei Karies alle weiche Substanz vollständig entfernt werden muss? Paris rät heute zu mehr Zurückhaltung – auch, weil dabei unter Umständen der Nerv beschädigt wird. Man könne durchaus etwas Karies zurücklassen, meint der Spezialist. Bei einer optimalen Versorgung breite sich die Karies in der Regel nicht weiter aus. „Karies ist ein Prozess“, erklärte Paris. So könne sie sehr aktiv voranschreiten oder aber zum Stillstand kommen. Jedenfalls müsse man das Risiko abschätzen und gegebenenfalls erst einmal abwarten und beobachten. Eines aber gelte in jedem Fall: „Zähneputzen ist das A und O der Prophylaxe“, so Paris.
Vom belegten Nutzen der Zahncremes und Spülungen
„Wenn ich im Drogeriemarkt stehe und das große Angebot an Zahncremes und Mundspülungen sehe, komme auch ich ins Grübeln“, sagte selbst Professor Bernd Haller, Ärztlicher Direktor der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie am Universitätsklinikum Ulm. Über den Nutzen solcher Produkte herrschen selbst unter der Ärzteschaft teils stark unterschiedliche Ansichten.
Wer hat in diesem Warendschungel überhaupt noch den Durchblick? Und lässt sich eine Form der Prophylaxe empfehlen? Matthias Hannig, Professor am Universitätsklinikum Homburg, hat zumindest einen sehr guten Überblick über die aktuelle Studienlage zu Spülungen und Zahncremes, die Karies vorbeugen und Plaque reduzieren sollen.
Doch konkretere Empfehlungen konnte und mochte der Wissenschaftler nicht geben: „Um eine belastbare Datenlage zu bekommen, sind noch viele klinische Studien notwendig.“Einen Tipp für den Gang durch die Drogerie hat der Zahnmediziner immerhin parat: Fluoride dürften seiner Meinung nach in der breiten Kariesprophylaxe nicht fehlen.
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