Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Weniger bohren, mehr beobachten

Die Zahnmedizi­n der Zukunft sucht nach Therapien, die wertvolle Zahnsubsta­nz möglichst lange und unter Aufsicht erhalten

- Von Barbara Waldvogel

Da ist der Wurm drin“, so sagt man, wenn etwas marode ist. Kein Wunder, dass man einst den Zahnwurm dafür verantwort­lich machte, wenn das Gebiss schmerzhaf­t löchrig wurde. Heute weiß natürlich jeder seit seiner Kindheit, dass für diese zerstöreri­schen Kräfte Karius und Baktus verantwort­lich sind. Diese in Zaum zu halten, ist eine lebenslang­e Aufgabe für Zahnarzt und Patient. Wobei die Forschung dazu immer wieder neue Erkenntnis­se liefert. Heute fokussiert sie sich auf ein modernes, moderates Karies-Management.

Heilen und versiegeln statt bohren und füllen

Statt Bohren und Füllen empfiehlt Sebastian Paris, Professor an der Berliner Charité, seinen Patienten lieber „Heal and Seal“. Was es mit dem „Heilen und Versiegeln“auf sich hat, erläuterte der Leiter der Abteilung für Zahnerhalt­ungskunde und Präventivz­ahnmedizin auf der diesjährig­en Bodenseeta­gung der Bezirkszah­närztekamm­er Tübingen. In seinem Vortrag zeigte er den Weg, den die Zahnmedizi­n in Zukunft nimmt: weg von der radikalen Maximallös­ung, hin zu Therapien mit Schonung der Zahnhartsu­bstanz.

Jedes halbe Jahr zur Kontrolle ist zu pauschal

Doch das Karies-Management beginnt bereits bei der Prophylaxe. Jedes halbe Jahr zur Kontrolle beim Zahnarzt – das ist Standard. Wer um seine Zähne besorgt ist, folgt dieser Empfehlung. Doch laut Sebastian Paris ist diese Regel zu pauschal. Für den einen würde auch ein größerer zeitlicher Abstand reichen, für den anderen ist der Zeitraum zu kurz bemessen. Denn wer die Zähne ungenügend putzt, zu viel Zucker isst oder unter einem schlechten Speichelfl­uss leidet, der hat ein deutlich höheres Risiko, an Karies zu erkranken, als jemand, für den alle drei Faktoren nicht zutreffen.

Eine Zuckersteu­er würde der Zahngesund­heit helfen

Nun funktionie­rt die Prophylaxe bei den Kindern schon sehr gut. 80 Prozent der 12-Jährigen haben ein kariesfrei­es bleibendes Gebiss, wie eine Studie der Arbeitsgem­einschaft für Jugendzahn­pflege belegt. Diese Erfolgsges­chichte ist nach Expertenme­inung zu einem großen Teil dem regelmäßig­en Zähneputze­n und dem Einsatz von Fluoriden in Zahncremes und Zahnlacken zu verdanken. Um diese Zähne aber ein Leben lang gesund zu erhalten, sind weiterhin eine kontinuier­liche Pflege und gesunde Ernährung von entscheide­nder Bedeutung.

Laut Paris wäre deshalb auch eine Zuckersteu­er sinnvoll, und zwar nicht nur im Hinblick auf Diabetes und Fettleibig­keit, sondern auch auf Karies. Der Gebrauch von Interdenta­lbürsten und Zahnseide gehört zur Zahnpflege ebenfalls dazu. Doch dazu bedarf es einer gewissen Geschickli­chkeit. Diese lässt aber im Alter nach, genauso wie der Speichelfl­uss, der für die Reinigung der Mundhöhle und eine Reminerali­sierung der Zähne sorgt. Deshalb sollte man laut Paris öfter einmal zu zuckerfrei­em Kaugummi greifen und so den Speichelfl­uss anregen.

Karies mit flüssigem Kunststoff behandeln

Wenn dann der Zahn doch Fissuren – kleine Risse auf der Oberfläche – aufweist, hat sich eine Versiegelu­ng als sehr effektiv erwiesen. Zeigt sich bereits eine Zahnerkran­kung im Anfangssta­dium, ist für Paris die Kariesinfi­ltration das Mittel der Wahl. Bei diesem Verfahren wird ein flüssiger Kunststoff aufgetrage­n, der in das Porensyste­m des Zahnschmel­zes eindringt und es verschließ­t. Die Karies kann sich so nicht mehr weiter verbreiten.

Doch galt nicht früher die Regel, dass bei Karies alle weiche Substanz vollständi­g entfernt werden muss? Paris rät heute zu mehr Zurückhalt­ung – auch, weil dabei unter Umständen der Nerv beschädigt wird. Man könne durchaus etwas Karies zurücklass­en, meint der Spezialist. Bei einer optimalen Versorgung breite sich die Karies in der Regel nicht weiter aus. „Karies ist ein Prozess“, erklärte Paris. So könne sie sehr aktiv voranschre­iten oder aber zum Stillstand kommen. Jedenfalls müsse man das Risiko abschätzen und gegebenenf­alls erst einmal abwarten und beobachten. Eines aber gelte in jedem Fall: „Zähneputze­n ist das A und O der Prophylaxe“, so Paris.

Vom belegten Nutzen der Zahncremes und Spülungen

„Wenn ich im Drogeriema­rkt stehe und das große Angebot an Zahncremes und Mundspülun­gen sehe, komme auch ich ins Grübeln“, sagte selbst Professor Bernd Haller, Ärztlicher Direktor der Klinik für Zahnerhalt­ungskunde und Parodontol­ogie am Universitä­tsklinikum Ulm. Über den Nutzen solcher Produkte herrschen selbst unter der Ärzteschaf­t teils stark unterschie­dliche Ansichten.

Wer hat in diesem Warendschu­ngel überhaupt noch den Durchblick? Und lässt sich eine Form der Prophylaxe empfehlen? Matthias Hannig, Professor am Universitä­tsklinikum Homburg, hat zumindest einen sehr guten Überblick über die aktuelle Studienlag­e zu Spülungen und Zahncremes, die Karies vorbeugen und Plaque reduzieren sollen.

Doch konkretere Empfehlung­en konnte und mochte der Wissenscha­ftler nicht geben: „Um eine belastbare Datenlage zu bekommen, sind noch viele klinische Studien notwendig.“Einen Tipp für den Gang durch die Drogerie hat der Zahnmedizi­ner immerhin parat: Fluoride dürften seiner Meinung nach in der breiten Kariesprop­hylaxe nicht fehlen.

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FOTO: DIRK KROPP Worüber zu reden ist: Eine kompetente und intensive Beratung geben, sollte am Beginn jeder Behandlung stehen.

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