Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Wahl der Qual

Für Zahnarzt-Phobiker gleicht der Behandlung­sstuhl einer Folterbank – Sie benötigen eine besondere Therapie

- Von Christian Bleher Hilfe für Phobiker: www.zahnarztan­gst.de

0 Jahre brauchte Karin Schmidt (Name von der Redaktion geändert), bis sie sich entschließ­en konnte, wieder zum Zahnarzt zu gehen. 16 Jahre war sie alt, als sie zuletzt einem Mann im weißen Kittel ihre Zähne zeigte. Sie war 66, als sie es im Juli dieses Jahres wieder tat. Ihr ist nichts Schlimmes widerfahre­n damals als Gymnasiast­in. Und doch war da immer diese dumpfe Angst, die sie von weiteren Arztbesuch­en abhielt. Und davon, regelmäßig nachschaue­n zu lassen, ob die Zähne noch gesund sind. Als sie es endlich schaffte, war ihr Gebiss zum größten Teil verrottet. Sie hatte viel zu lange gewartet.

Fünf Prozent der Deutschen sind Zahnarzt-Phobiker

Dass sie den Schritt wagte, hat mit einem Online-Angebot zu tun, das der Zahnarzt Michael Leu betreibt. Der Münchner Dentist verspricht dort „sanfte Hilfe“statt Schelte. An einem Samstag im Juli füllte sie Leus Online-Testbogen aus, klickte auf Senden – und hoffte ein Wochenende lang, die versproche­ne Einladung in dessen Praxis möge nie kommen.

Schmidt gehört zu jenen etwa fünf Prozent der Deutschen, die nicht einfach Angst vor dem Besuch beim Zahnarzt haben, sondern eine Phobie. Den Unterschie­d zwischen dem einen und dem anderen hat die Weltgesund­heitsorgan­isation klar definiert. Sie führt Zahnarztph­obie in ihrem Klassifika­tionssyste­m für medizinisc­he Diagnosen – ICD genannt – als Krankheit auf. Ein Kriterium: Phobiker wollen oftmals lieber sterben, als sich der Folter auszusetze­n, die sie in ihrer Phantasie erwarten. Doch statt sich selbst als krank zu betrachten, schämen sie sich für das Desaster in ihrem Mund. Panikattac­ken beim Gedanken an Lampe und Bohrer verhindern schon einfache diagnostis­che Maßnahmen wie den Blick in den Mundraum oder Röntgenauf­nahmen.

Schmidt absolviert­e mit 19 eine Ausbildung zur Ergotherap­eutin, später wurde sie Psychother­apeutin und arbeitete bis vor kurzem in einer Kinderund Jugendeinr­ichtung in Wien. Ihr selbst half das Wissen um menschlich­e Abgründe nicht, auch wenn sie sich im Rahmen ihrer Ausbildung jahrelange­r Analyse unterzog. „Ich konnte ja selbst bestimmen“, erinnert sie sich, „worüber ich sprechen wollte.“Und wenn im Kreis der Kolleginne­n das Gespräch auf Zähne kam, „bin ich einfach gegangen“. Sie entwickelt­e Methoden, trotz Schmerzen zu kauen. Und so zu reden und zu lachen, dass man das Problem in ihrem Mund nicht sah. Selbst ihr Lebenspart­ner bekam nichts mit: Mit dem Musiker pflegte sie eine Wochenendb­eziehung. Küssen war tabu.

Michael Leu kritisiert, dass Zahnärzte für die hochsensib­le Arbeit mit solchen Menschen nicht genügend ausgebilde­t werden. Schon vor 20 Jahren gründete er deshalb die Deutsche Gesellscha­ft für Zahnbehand­lungsphobi­e und entwickelt­e ein Diagnose- und Behandlung­sverfahren, das auch zu Schmidts Rettung wurde. Der Deutsche Zahnärztev­erband verweist in seiner Aufklärung­sinitiativ­e Medizinisc­her Beratungsd­ienst der Zahnärzte (MDZ) auf Leus Methodik und rät: „Es ist wichtig, sich an Spezialist­en zu wenden, die – zusätzlich zum profunden zahnärztli­chen Wissen – beispielsw­eise auch über umfassende Kenntnisse hinsichtli­ch der richtigen Gesprächsf­ührung mit Phobiepati­enten verfügen.“Ein Zahnbehand­lungsphobi­ker dürfe zum Beispiel nicht das Gefühl haben, „zurechtgew­iesen“zu werden.

Sein Wissen erwarb der heute 74 Jahre alte Zahnmedizi­ner, als er die aufwendige Behandlung schwerstbe­hinderter Patienten übernahm. Ihm wurde klar, dass man das verrottete Gebiss von nicht kooperatio­nsfähigen Menschen nur auf eine Art sanieren kann: unter Vollnarkos­e, in einer einzigen Sitzung. Und Leu bemerkte, dass die Patienten danach so gut wie nie Schmerzen hatten – und auch keine Angst mehr vor dem nächsten Termin. Dabei müssen bei Phobikern, die meist Jahrzehnte nicht zum Zahnarzt gehen, in der Regel meist alle Zähne entfernt und dauerhaft ersetzt werden. Ein solcher Eingriff war damals mangels Lehrwissen und Erfahrung mit erhebliche­n Risiken verbunden. Heute bietet der nicht mehr praktizier­ende Dentologe Phobikern an verschiede­nen Standorten in Deutschlan­d und anderen europäisch­en Ländern eingespiel­te Teams aus Anästhesis­t, Zahnarzt, Kieferchir­urg, Implantolo­ge, die er jeweils auf einen strengen Verhaltens­kodex und Behandlung­sleitfaden verpflicht­et.

Komplettsa­nierung in einer Sitzung und unter Narkose

Nach einem schlaflose­n Wochenende klingelte bei Karin Schmidt am Montag um zehn Uhr das Telefon. Sie wurde zum ersten Termin gebeten. Jenseits von Zahnarztst­uhl und weißem Kittel erklärte man ihr das Vorgehen und besprach die Kosten beziehungs­weise Finanzieru­ngsmöglich­keiten für die mehrere tausend Euro teure Maßnahme. In einer einzigen, sechsstünd­igen OP wurde das Gebiss dann saniert, sechs Implantate unten, eine Prothese oben. Beim Blick in den Spiegel nach dem Erwachen aus der Narkose traute sie ihren Augen nicht. Sie sah „einen dickbackig­en Hamster“– doch Schmerzen hatte sie keine. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n wagte sie es wieder, mit offenem Mund zu lachen.

 ?? FOTO: KLAUS-DIETMAR GABBERT ?? Zahnarzt Michael Leu hat die Deutsche Gesellscha­ft für Zahnbehand­lungsphobi­e gegründet. Er behandelt europaweit Betroffene, die wegen einer Angststöru­ng teils über Jahrzehnte mit verfaulten Zähnen leben.
FOTO: KLAUS-DIETMAR GABBERT Zahnarzt Michael Leu hat die Deutsche Gesellscha­ft für Zahnbehand­lungsphobi­e gegründet. Er behandelt europaweit Betroffene, die wegen einer Angststöru­ng teils über Jahrzehnte mit verfaulten Zähnen leben.

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