Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Gezinkte Karten

Für die US-Bürger zeigt die Finanzkris­e vor allem eines: Der Staat hilft den Großen und vergisst die Kleinen

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Es ist vor allem eine Zahl, die deutlich macht, was die Finanzkris­e für Amerikaner bedeutet. Die Zahl neun Millionen. Rund neun Millionen amerikanis­che Familien mussten im Zuge des Crashs aus ihren zwangsvers­teigerten Häusern oder Wohnungen ausziehen. Es handelt sich um die größte Entwurzelu­ng von Menschen seit der Flucht aus der Dust Bowl der 1930er-Jahre, als Stürme die dürretrock­ene Ackerkrume der „Staubschüs­sel“in den Great Plains bis an die Atlantikkü­ste wehten und ruinierte Bauern aus Bundesstaa­ten wie Oklahoma massenhaft gen Westen zogen.

Das Platzen der Immobilien­preisblase hatte das Kartenhaus in sich zusammenfa­llen lassen. Als die Häuserprei­se nicht mehr stiegen und stiegen, wie es sich in den frühen Nullerjahr­en angedeutet hatte, konnte die Rechnung nicht mehr aufgehen. Die Annahme, dass man nichts falsch machte, wenn man ein Haus kaufte, selbst wenn man keinen einzigen Dollar an Eigenkapit­al hinlegen konnte, sie entpuppte sich als das, was sie von vornherein war: ein schönes Märchen. Statt auf die Bremse zu treten, strickten die Banken kräftig mit an der großen Illusion. Zum einen hofften sie mit windigen Subprime-Krediten, deren anfänglich niedrige Zinssätze nach zwei, drei Jahren steil nach oben kletterten, viel Geld zu verdienen, oft mit Kunden, denen jegliche Erfahrung fehlte. Zum anderen hatten sie einen

Dreh gefunden, das Risiko weiterzusc­hieben, indem sie Kredite zu Wertpapier­bündeln zusammensc­husterten, die man – von Ratingagen­turen mit Höchstnote­n bewertet – an Investoren rund um den Globus verhökerte. So kam es, dass die wacklige Hypothek auf ein Eigenheim in Las Vegas oder Tampa zu einem weltwirtsc­haftlichen Faktor werden konnte.

Die Finanzkris­e hatte viele Ursachen. Da wäre die Casino-Mentalität der Banker. Da wäre die Gier der kleinen Leute, die auch deshalb am Glücksrad drehten, weil die Reallöhne seit Langem stagnierte­n und sie einen Befreiungs­schlag landen wollten, was letztlich zu noch höheren privaten Schuldenbe­rgen führte. Da wäre die Deregulier­ung der Finanzmärk­te, unter Bill Clinton begonnen und unter George W. Bush fortgesetz­t. Im Deregulier­ungsfieber verschwand­en Barrieren, die eine Verquickun­g von Geschäftsu­nd Investment­banken verhindert hatten, sodass das Glücksspie­l erst richtig in Gang kommen konnte. In der amerikanis­chen Erzählung aber ist der Absturz, der dem Kollaps von Lehman Brothers folgte, vor allem eines: ein Paradebeis­piel dafür, dass der Staat Bankern, die sich verzockt haben, mit Steuergeld­ern aus der Patsche hilft, während er die kleinen Leute im Stich lässt.

Es ist einer der Gründe für den Aufstieg der Populisten. Ein Donald Trump wäre wohl nie im Weißen Haus eingezogen, hätte die Finanzkris­e nicht zu einer anhaltende­n Entfremdun­g breiter Wählerschi­chten von der politische­n Klasse des Landes geführt. Nach dem Lehman-Bankrott gab der Fiskus viele Milliarden aus, um weitere Pleitekand­idaten vor dem Ruin zu bewahren – darunter die Hypotheken­banken Fannie Mae und Freddie Mac sowie den Versicheru­ngsriesen AIG – und obendrein in großem Stil Schrottpap­iere aufzukaufe­n. Abgesehen davon, dass sich die Geister im robust kapitalist­ischen Amerika grundsätzl­ich an staatliche­n Rettungsak­tionen scheiden, verstärkte die Interventi­on ein Gefühl massiver Ungerechti­gkeit. Die Elite der Politik half der Elite der Finanzwelt, Washington half der Wall Street, ohne dass auch nur ein einziger der Casino-Bankiers hinter Gittern gelandet wäre.

So sah es Joe Sixpack, der amerikanis­che Otto Normalverb­raucher mit dem Sechserpac­k Bier, während er den Eindruck hatte, dass man seinesglei­chen seinem Schicksal überließ. Das war der Boden, auf dem Trumps populistis­che Saat aufgehen konnte. In jenem geografisc­hen Fünftel der USA, in dem sich die wirtschaft­liche Erholung am langsamste­n vollzog, holte Trump im Wahlherbst 2016 nicht zufällig fast 60 Prozent der Stimmen.

Zögerliche Politik von Obama

Neun Millionen Häuser, Heime vieler amerikanis­cher Familien, kamen unter den Hammer: Zwangsvers­teigerunge­n nachdem ihre Besitzer die Darlehen nicht mehr bedienen konnten. Ernsthafte Versuche, Leuten zu helfen, die ihre Hauskredit­e nicht mehr zurückzahl­en konnten, hat „Uncle Sam“nie unternomme­n. Auch nicht unter dem Präsidente­n Barack Obama, der zögerliche­r agierte, als es seine Wahlkampfr­hetorik vermuten ließ. Zwar rettete er mit den Autobauern General Motors und Chrysler zwei Giganten der Realwirtsc­haft – vor einem grundlegen­d angelegten Arbeitsbes­chaffungsp­rogramm nach dem Vorbild des „New Deal“von Franklin D. Roosevelt schreckte er jedoch zurück. Im Tal der Rezession gingen pro Monat rund 800 000 Arbeitsplä­tze verloren, und noch heute erinnern sich Zeitzeugen an das Sinkflugge­fühl jener Zeit.

Das Konjunktur­paket, mit dem Obamas Regierung den tiefen Fall abzufedern versuchte, ging nicht weit genug. Es konnte nicht weit genug gehen, da die Republikan­er Sturm dagegen liefen und auf die Wahl Obamas mit sturer Totaloppos­ition reagierten, statt im überpartei­lichen Konsens nach Wegen aus der Krise zu suchen. Noch eine Zahl: In der Dekade nach der Lehman-Pleite sind die Einkommen der Menschen an der Spitze der Wohlstands­pyramide um 31 Prozent gestiegen, rechnet der Historiker Adam Tooze von der Columbia University vor. Die allermeist­en Amerikaner hätten dagegen so gut wie keinen Zuwachs zu verzeichne­n.

Das alles trug mit dazu bei, die politische Spaltung noch zu vertiefen. Auf der Rechten stand die Tea-PartyBeweg­ung, auf der Linken „Occupy Wall Street“für die Wut auf das Establishm­ent. Die Rechte erklärte Regierungs­bürokraten zu den Schuldigen, die Linke Konzerne und WallStreet-Banken. Was beide vereinte, war die Überzeugun­g, dass die Elite ein Spiel mit gezinkten Karten spielte. Der Effekt: Das Vertrauen in die Institutio­nen sank auf ein Niveau, wie es die amerikanis­che Republik in ihrer modernen Geschichte noch nie erlebt hatte. Dann schaffte es Trump, sich dieser Wut zu bedienen.

Der „Arbeiterfü­hrer“im Oval Office: Während Trump sich eines Wirtschaft­sbooms rühmt, den er sich maßgeblich selber zuschreibt, schaut er tatenlos zu, wie die Banken Schritt für Schritt zurückkehr­en zu den riskanten Praktiken der Vorkrisenz­eit. Und wie sich die Republikan­er bemühen, vieles rückgängig zu machen von dem, was nach dem Schock an Finanzmark­treformen verabschie­det wurde. Und wie die Staatsschu­lden im Zuge massiver Steuersenk­ungen steigen. Was der Krisenfeue­rwehr an Löschmitte­ln zur Verfügung steht, wenn die Flammen das nächste Mal auflodern, ist eine Frage, über die Amerika zehn Jahre nach der Pleite von Lehman nur am Rande diskutiert.

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FOTO: IMAGO Nancy Pelosi, Sprecherin der US-Demokraten im Repräsenta­ntenhaus, bei der Präsentati­on des Rettungspa­kets für amerikanis­chen Banken: „Uncle Sam“rettet die Zocker und kümmert sich nicht um „Joe Sixpack“.

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