Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Gezinkte Karten
Für die US-Bürger zeigt die Finanzkrise vor allem eines: Der Staat hilft den Großen und vergisst die Kleinen
WASHINGTON - Es ist vor allem eine Zahl, die deutlich macht, was die Finanzkrise für Amerikaner bedeutet. Die Zahl neun Millionen. Rund neun Millionen amerikanische Familien mussten im Zuge des Crashs aus ihren zwangsversteigerten Häusern oder Wohnungen ausziehen. Es handelt sich um die größte Entwurzelung von Menschen seit der Flucht aus der Dust Bowl der 1930er-Jahre, als Stürme die dürretrockene Ackerkrume der „Staubschüssel“in den Great Plains bis an die Atlantikküste wehten und ruinierte Bauern aus Bundesstaaten wie Oklahoma massenhaft gen Westen zogen.
Das Platzen der Immobilienpreisblase hatte das Kartenhaus in sich zusammenfallen lassen. Als die Häuserpreise nicht mehr stiegen und stiegen, wie es sich in den frühen Nullerjahren angedeutet hatte, konnte die Rechnung nicht mehr aufgehen. Die Annahme, dass man nichts falsch machte, wenn man ein Haus kaufte, selbst wenn man keinen einzigen Dollar an Eigenkapital hinlegen konnte, sie entpuppte sich als das, was sie von vornherein war: ein schönes Märchen. Statt auf die Bremse zu treten, strickten die Banken kräftig mit an der großen Illusion. Zum einen hofften sie mit windigen Subprime-Krediten, deren anfänglich niedrige Zinssätze nach zwei, drei Jahren steil nach oben kletterten, viel Geld zu verdienen, oft mit Kunden, denen jegliche Erfahrung fehlte. Zum anderen hatten sie einen
Dreh gefunden, das Risiko weiterzuschieben, indem sie Kredite zu Wertpapierbündeln zusammenschusterten, die man – von Ratingagenturen mit Höchstnoten bewertet – an Investoren rund um den Globus verhökerte. So kam es, dass die wacklige Hypothek auf ein Eigenheim in Las Vegas oder Tampa zu einem weltwirtschaftlichen Faktor werden konnte.
Die Finanzkrise hatte viele Ursachen. Da wäre die Casino-Mentalität der Banker. Da wäre die Gier der kleinen Leute, die auch deshalb am Glücksrad drehten, weil die Reallöhne seit Langem stagnierten und sie einen Befreiungsschlag landen wollten, was letztlich zu noch höheren privaten Schuldenbergen führte. Da wäre die Deregulierung der Finanzmärkte, unter Bill Clinton begonnen und unter George W. Bush fortgesetzt. Im Deregulierungsfieber verschwanden Barrieren, die eine Verquickung von Geschäftsund Investmentbanken verhindert hatten, sodass das Glücksspiel erst richtig in Gang kommen konnte. In der amerikanischen Erzählung aber ist der Absturz, der dem Kollaps von Lehman Brothers folgte, vor allem eines: ein Paradebeispiel dafür, dass der Staat Bankern, die sich verzockt haben, mit Steuergeldern aus der Patsche hilft, während er die kleinen Leute im Stich lässt.
Es ist einer der Gründe für den Aufstieg der Populisten. Ein Donald Trump wäre wohl nie im Weißen Haus eingezogen, hätte die Finanzkrise nicht zu einer anhaltenden Entfremdung breiter Wählerschichten von der politischen Klasse des Landes geführt. Nach dem Lehman-Bankrott gab der Fiskus viele Milliarden aus, um weitere Pleitekandidaten vor dem Ruin zu bewahren – darunter die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac sowie den Versicherungsriesen AIG – und obendrein in großem Stil Schrottpapiere aufzukaufen. Abgesehen davon, dass sich die Geister im robust kapitalistischen Amerika grundsätzlich an staatlichen Rettungsaktionen scheiden, verstärkte die Intervention ein Gefühl massiver Ungerechtigkeit. Die Elite der Politik half der Elite der Finanzwelt, Washington half der Wall Street, ohne dass auch nur ein einziger der Casino-Bankiers hinter Gittern gelandet wäre.
So sah es Joe Sixpack, der amerikanische Otto Normalverbraucher mit dem Sechserpack Bier, während er den Eindruck hatte, dass man seinesgleichen seinem Schicksal überließ. Das war der Boden, auf dem Trumps populistische Saat aufgehen konnte. In jenem geografischen Fünftel der USA, in dem sich die wirtschaftliche Erholung am langsamsten vollzog, holte Trump im Wahlherbst 2016 nicht zufällig fast 60 Prozent der Stimmen.
Zögerliche Politik von Obama
Neun Millionen Häuser, Heime vieler amerikanischer Familien, kamen unter den Hammer: Zwangsversteigerungen nachdem ihre Besitzer die Darlehen nicht mehr bedienen konnten. Ernsthafte Versuche, Leuten zu helfen, die ihre Hauskredite nicht mehr zurückzahlen konnten, hat „Uncle Sam“nie unternommen. Auch nicht unter dem Präsidenten Barack Obama, der zögerlicher agierte, als es seine Wahlkampfrhetorik vermuten ließ. Zwar rettete er mit den Autobauern General Motors und Chrysler zwei Giganten der Realwirtschaft – vor einem grundlegend angelegten Arbeitsbeschaffungsprogramm nach dem Vorbild des „New Deal“von Franklin D. Roosevelt schreckte er jedoch zurück. Im Tal der Rezession gingen pro Monat rund 800 000 Arbeitsplätze verloren, und noch heute erinnern sich Zeitzeugen an das Sinkfluggefühl jener Zeit.
Das Konjunkturpaket, mit dem Obamas Regierung den tiefen Fall abzufedern versuchte, ging nicht weit genug. Es konnte nicht weit genug gehen, da die Republikaner Sturm dagegen liefen und auf die Wahl Obamas mit sturer Totalopposition reagierten, statt im überparteilichen Konsens nach Wegen aus der Krise zu suchen. Noch eine Zahl: In der Dekade nach der Lehman-Pleite sind die Einkommen der Menschen an der Spitze der Wohlstandspyramide um 31 Prozent gestiegen, rechnet der Historiker Adam Tooze von der Columbia University vor. Die allermeisten Amerikaner hätten dagegen so gut wie keinen Zuwachs zu verzeichnen.
Das alles trug mit dazu bei, die politische Spaltung noch zu vertiefen. Auf der Rechten stand die Tea-PartyBewegung, auf der Linken „Occupy Wall Street“für die Wut auf das Establishment. Die Rechte erklärte Regierungsbürokraten zu den Schuldigen, die Linke Konzerne und WallStreet-Banken. Was beide vereinte, war die Überzeugung, dass die Elite ein Spiel mit gezinkten Karten spielte. Der Effekt: Das Vertrauen in die Institutionen sank auf ein Niveau, wie es die amerikanische Republik in ihrer modernen Geschichte noch nie erlebt hatte. Dann schaffte es Trump, sich dieser Wut zu bedienen.
Der „Arbeiterführer“im Oval Office: Während Trump sich eines Wirtschaftsbooms rühmt, den er sich maßgeblich selber zuschreibt, schaut er tatenlos zu, wie die Banken Schritt für Schritt zurückkehren zu den riskanten Praktiken der Vorkrisenzeit. Und wie sich die Republikaner bemühen, vieles rückgängig zu machen von dem, was nach dem Schock an Finanzmarktreformen verabschiedet wurde. Und wie die Staatsschulden im Zuge massiver Steuersenkungen steigen. Was der Krisenfeuerwehr an Löschmitteln zur Verfügung steht, wenn die Flammen das nächste Mal auflodern, ist eine Frage, über die Amerika zehn Jahre nach der Pleite von Lehman nur am Rande diskutiert.