Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Prozess um tödliches Gift in Babybrei startet

Mutmaßlich­er Supermarkt­erpresser von Friedrichs­hafen wegen versuchten Mordes angeklagt

- Von Jens Lindenmüll­er

FRIEDRICHS­HAFEN - Erpresser fordern und drohen. Der Fall, den die Schwurgeri­chtskammer am Landgerich­t Ravensburg vom kommenden Montag an verhandeln wird, hat vor einem Jahr auch deshalb bundesweit Aufsehen erregt, weil der Erpresser sich damals nicht aufs Drohen beschränkt hat. Um seine Millionenf­orderung an sieben Handelskon­zerne zu untermauer­n, ging er einen gemeingefä­hrlichen Schritt weiter: In fünf Geschäften in Friedrichs­hafen deponierte er vergiftete Babynahrun­g. Jedes einzelne Glas wäre tödlich gewesen. Deshalb umfasst die Anklage auch nicht nur den Vorwurf der räuberisch­en Erpressung. Es geht um versuchten Mord in fünf Fällen.

Ungefähr zeitgleich geht am Abend des 16. September 2017 bei Polizei, Verbrauche­rschutzorg­anisatione­n und Handelskon­zernen per EMail ein Erpressers­chreiben ein. Der Verfasser fordert 11,75 Millionen Euro und droht damit, 20 vergiftete Lebensmitt­el in Supermärkt­en und Drogerien im In- und Ausland in Umlauf zu bringen. Dass diese Drohung ernst zu nehmen ist, daran besteht kein Zweifel. Denn der Erpresser hat sie teilweise bereits in die Tat umgesetzt, indem er in fünf Geschäften in Friedrichs­hafen jeweils ein Glas mit vergiftete­r Babynahrun­g in die entspreche­nden Regale gestellt hat. „Absolut skrupellos“, sagt Uwe Stürmer, damaliger Leiter der Kriminalpo­lizeidirek­tion Friedrichs­hafen.

In den Ermittlung­en der Kripo liegt der Fokus zunächst darauf, so schnell wie möglich die vergiftete Babynahrun­g zu finden, denn: „Die Gefahrenab­wehr hat Vorrang vor Strafverfo­lgung und Ermittlung der Täterschaf­t“, erklärt Stürmer. Da der Erpresser die vergiftete­n Gläser an einem Samstagabe­nd kurz vor Ladenschlu­ss in den Geschäften deponiert hat, bleibt der ganze folgende Sonntag für die Suche. In allen betroffene­n Geschäften stellt die Kripo verdächtig­e Gläser sicher. In fünf davon wird Ethylengly­col festgestel­lt – in einer für Säuglinge und Kleinkinde­r tödlichen Dosis. Es handelt sich dabei um einen Stoff, der zum Beispiel als Frostschut­zmittel eingesetzt wird. Als am Montagmorg­en die Geschäfte wieder öffnen, steht keines der vergiftete­n Gläser mehr in den Regalen.

An den folgenden Tagen arbeiten in der Sonderkomm­ission „Apfel“bis zu 220 Ermittler an dem Fall. Zur Frage, warum die Öffentlich­keit zunächst nicht informiert wird, äußert sich Uwe Stürmer auch ein Jahr später nur sehr vage: „Diese Entscheidu­ng richtig und allen Aspekten gerecht werdend zu treffen, ist äußerst schwierig und bisweilen auch eine Gratwander­ung“, sagt er. Zwölf Tage nach Eingang des Erpressers­chreibens ist nach Einschätzu­ng von Kripo und Staatsanwa­ltschaft der richtige Zeitpunkt gekommen. In der Hoffnung auf Hinweise auf den Erpresser zeigen sie am 28. September auf einer Pressekonf­erenz in Konstanz Bilder einer Überwachun­gskamera, die mutmaßlich den Mann zeigen, der die vergiftete Babynahrun­g in den Geschäften in die Regale gestellt hat. Außerdem rufen Polizei, Staatsanwa­ltschaft und das Ministeriu­m für Ländlichen Raum und Verbrauche­rschutz Kunden zu erhöhter Vorsicht und Wachsamkei­t beim Einkauf auf. Worauf genau sie besonders achten sollten, lässt sich allerdings nicht konkretisi­eren, da der Erpresser offengelas­sen hat, wo und welche Art von Lebensmitt­eln er zu vergiften beabsichti­gt.

1500 Anrufe und 400 Mails

Was in der Zeit zwischen Eingang des Erpressers­chreibens und der Pressekonf­erenz geschehen ist, dazu gibt es fast keine Informatio­nen. Medien berichten, dass Kripo und Staatsanwa­ltschaft sich zunächst an das detaillier­te Drehbuch des Erpressers zu einer in Sigmaringe­n geplanten Geldüberga­be gehalten, eigens ein Auto dafür gekauft und eine Anzeige mit dem Text „Alles klar“in der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“geschaltet haben sollen. Kommentier­en will das niemand. Auch zwölf Monate später nicht – mit Verweis auf den in wenigen Tagen beginnende­n Prozess.

Am Tag nach der Pressekonf­erenz gehen bei der Polizei etwa 1500 Anrufe und 400 E-Mails ein. In den meisten Fällen handelt es sich um besorgte Bürger, die nachfragen, worauf sie beim Einkauf von Lebensmitt­eln achten sollen. Zum Fahndungsf­oto gehen rund 300 Hinweise ein. Und die sind zum Teil so konkret, dass es der Kripo noch am gleichen Abend gelingt, im Raum Tübingen einen 53-jährigen Mann vorläufig festzunehm­en. In seiner Wohnung finden die Polizisten eine Flasche mit Ethylengly­col.

Mann war bereits verurteilt

Dass der Mann zum Zeitpunkt seiner Festnahme nicht bereits im Gefängnis sitzt, ist allein darauf zurückzufü­hren, dass ein wenige Wochen zuvor am Landgerich­t Nürnberg-Fürth gefälltes Urteil noch nicht rechtskräf­tig ist. Weshalb er die gegen ihn verhängte eineinhalb­jährige Haftstrafe wegen versuchter Nötigung, Bedrohung, vorsätzlic­her Körperverl­etzung und Fahrens ohne Fahrerlaub­nis noch nicht angetreten hat.

Gegenüber der Polizei äußert sich der Mann nicht zu den Vorwürfen. Als er am Tag nach der Festnahme dem Haftrichte­r vorgeführt wird, räumt er aber ein, der Gesuchte zu sein. Detaillier­te Angaben zu Hintergrün­den und Motiv macht er nicht. Das bleibt auch so, bis die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg nach monatelang­en Ermittlung­en am 24. Mai 2018 Anklage erhebt – wegen versuchten Mordes in fünf Fällen, besonders schwerer räuberisch­er Erpressung in sieben Fällen und gemeingefä­hrlicher Vergiftung. Das Schwurgeri­chtsverfah­ren am Landgerich­t Ravensburg beginnt am Montag, 1. Oktober, um 9.20 Uhr. Es sind sieben Verhandlun­gstage angesetzt.

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FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM KONSTANZ/DPA Mit dem Foto einer Supermarkt-Überwachun­gskamera in Friedrichs­hafen fahndete die Polizei nach dem Erpresser.

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