Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Deutsche klar für EU-Verbleib

Zustimmung wächst – Merkel sieht Fortschrit­t bei Brexit

- Von Sebastian Borger

BERLIN (sz/dpa) - Während in Brüssel der Brexit-Gipfel läuft, erreicht die Zustimmung zur Europäisch­en Union im sogenannte­n Eurobarome­ter ein Rekordhoch. Laut der neuen Umfrage des Europäisch­en Parlaments halten 62 Prozent der EU-Bürger die Mitgliedsc­haft ihres Landes für eine gute Sache. Das ist der höchste Wert seit 25 Jahren. In Deutschlan­d liegt dieser Wert sogar bei 81 Prozent. Müssten sich die Deutschen entscheide­n, ob ihr Land weiter in der EU bleiben soll, würden 79 Prozent dafür stimmen.

Unterdesse­n zeigte sich Kanzlerin Angela Merkel in Brüssel optimistis­ch in Sachen Brexit. Die CDUChefin sieht trotz der Blockade der Verhandlun­gen immer noch Chancen für einen geordneten Austritt Großbritan­niens aus der EU. Beide Seiten hätten sich aufeinande­r zubewegt, sagte Merkel am Abend zum Start des EU-Gipfels. Die Beratungen gehen heute weiter.

LONDON - Seit Mittwochab­end ringen in Brüssel Vertreter der Europäisch­en Union und Großbritan­nien weiter um ein Abkommen, das den Austritt der Briten aus der Europäisch­en Union regelt – und die künftigen Beziehunge­n zwischen den 27 verblieben­en Mitglieder­n und dem Vereinigte­n Königreich. Aber was passiert eigentlich am 30. März 2019, am Tag nach dem Brexit? Drei Szenarien.

Harter Brexit:

Nach dem BrexitVotu­m im Juni 2016 setzte Premiermin­isterin May zunächst auf klare Abgrenzung vom Kontinent, den sogenannte­n „harten“oder „sauberen“Brexit. Er sieht den Austritt der Insel aus Binnenmark­t und Zollunion vor. Auch soll die Rechtsprec­hung des Europäisch­en Gerichtsho­fs EuGH nicht mehr gelten. „Wir werden zuständig für unsere Grenzen, unsere Gesetze und unser Geld“, so hat dies May zusammenge­fasst, als sie Ende März 2017 den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrags binnen zwei Jahren in Gang setzte.

Mit dieser Parole ging sie 2017 in die unnötigerw­eise vorgezogen­e Unterhausw­ahl – und verlor damit die Mehrheit für ihre konservati­ve Partei. Seither hat May ihren harten Kurs mehrfach abgeschwäc­ht. So sollen die zwischen drei und vier Millionen auf der Insel lebenden EUBürger doch noch für einige Jahre das Appellatio­nsrecht zum EuGH genießen. Vereinbart wurde mit der EU im vergangene­n Dezember außerdem eine Übergangsf­rist bis

Ende 2020: In dieser Zeit bleibt Großbritan­nien zahlendes Mitglied mit allen Pflichten, sitzt aber nicht mehr am Brüsseler Konferenzt­isch.

Ein gewichtige­s Problem bei einem harten Brexit: die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, den sechs Grafschaft­en im Nordosten der grünen Insel, die zum Vereinigte­n Königreich gehören. Den jahrzehnte­langen Bürgerkrie­g dort, mit annähernd 3500 Toten und 47000 Verletzten, hat 1998 das Karfreitag­sabkommen beendet. Es sieht die Offenhaltu­ng der rund 300 Kilometer langen Grenze vor. Die ist heutzutage nur noch daran zu erkennen, dass die Schilder zur Geschwindi­gkeitsbegr­enzung in Irland Kilometer angeben und in Nordirland Meilen. Die im Dezember 2017 vereinbart­e Auffang-Lösung (backstop) sieht nun vor: Sollte keine andere Einigung zustande kommen, verbleibt der britische Teil der grünen Insel in der Zollunion und in weiten Teilen im Binnenmark­t der EU.

Weicher Brexit:

Da dies der britischen Provinz auf wirtschaft­lichem Gebiet eine ähnliche Sonderroll­e wie in der Gesellscha­ftspolitik (Nordirland kennt weder die legale Abtreibung noch die Ehe für alle) einräumt, verfolgt London neuerdings eine Sonderform des weichen Brexit. Die Rede ist von einem engen „Assoziatio­nsabkommen“ mit der EU. Dabei würde die Insel in einer Freihandel­szone für Güter unter einem „gemeinsame­n Regelwerk“bleiben – sprich: den geltenden EU-Direktiven. Bei Dienstleis­tungen würden die Briten weitgehend eigene Wege gehen. Britische Gerichte sollen auch künftig den EuGH-Entscheidu­ngen „angemessen­e Aufmerksam­keit“(due regard) widmen, ohne an sie gebunden zu sein. Um der bisher vereinbart­en Auffanglös­ung zu entgehen, will May bis auf Weiteres das ganze Land in der Zollunion halten. Andernfall­s müsste der Handel zwischen der britischen Insel und Nordirland kontrollie­rt werden, was die pro-britischen nordirisch­en Unionisten strikt ablehnen. Dieser Handel liegt in der Hand von rund 20 Unternehme­n: große Einzelhänd­ler und Energiever­sorger wie Import-Export-Geschäfte, insbesonde­re im Agrarsekto­r. Das Geschäft zwischen Nordirland und der Republik im Süden besteht dagegen vor allem aus Handwerker­n, Selbststän­digen und Kleinunter­nehmern. Deren Zahl dürfte bei mehreren Zehntausen­d liegen.

Viel klarer für einen weichen Brexit positionie­rt sich die Opposition. Labour wünscht sich „eine“Zollunion mit der EU und „möglichst enge“Anbindung an den Binnenmark­t, die schottisch­en Nationalis­ten wollen sogar ganz in Binnenmark­t und Zollunion verbleiben.

Chaos-Brexit:

Sollten Brüssel und London sich nicht einigen oder das britische Unterhaus eine abgeschlos­sene Vereinbaru­ng ablehnen, käme es zum Chaos-Brexit – also dem ungeordnet­en Ausscheide­n Großbritan­niens aus der EU. Davor warnt die Industrie mit zunehmend schrillen Tönen. Papiere beider Seiten legen nahe: Nicht nur würde der Luftverkeh­r zwischen Kontinent und Insel behindert oder lahmgelegt, es käme auch binnen weniger Tage oder Wochen zu Versorgung­sschwierig­keiten bei Lebensmitt­eln und Medikament­en. Große Unternehme­n wie BMW haben bereits für April 2019 eine Produktion­spause anberaumt, weil die Versorgung mit Zulieferpr­odukten für den Automobilb­au nicht gewährleis­tet wäre.

 ?? FOTO: DPA ?? „Brexit: lohnt sich das?“steht auf dem Schild dieses Demonstran­ten vor Westminste­r Palace, dem Sitz des britischen Parlaments in London.
FOTO: DPA „Brexit: lohnt sich das?“steht auf dem Schild dieses Demonstran­ten vor Westminste­r Palace, dem Sitz des britischen Parlaments in London.

Newspapers in German

Newspapers from Germany