Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Sägen für Deutschland
Nils Reise aus Staig-Altheim fährt nach Liverpool zur Weltmeisterschaft – in einer Sportart, die er erst seit Januar betreibt
Bäume in Rekordzeit zu zerlegen, liegt im Trend. Timbersports nennt sich das, was Anfang des Jahrtausends aus Übersee auch nach Deutschland geschwappt ist. Nils Reise aus Staig-Altheim nahe Ulm macht erst seit ein paar Monaten professionell Holz klein. Doch an der Motorsäge ist der 21-Jährige (Foto: Theresa Gnann) bereits ein Meister. Er steht im deutschen Team bei der WM der Sportholzfäller heute in Liverpool.
RAVENSBURG - Tschock! Tschock! Tschock! Mit präziser Wucht fährt die messerscharfe Spaltaxt in den kurzen, dicken Holzstamm, immer wieder. Links und rechts fliegen die Holzkeile, und beinahe hätte der allererste die Fotografin erwischt, die hinter ihrer Kamera gar nicht mitbekommen hat, dass sie gefährlich lebt. Nils Reise dagegen weiß genau, dass das, was er da tut, nicht ungefährlich ist. Deshalb trägt er Füße und Schienbeine umschließende Kettenstutzen, während er kraftvoll auf den Stamm einschlägt, auf dem er steht und den er zuvor selbst präpariert und fixiert hat. Underhand Chop heißt diese Disziplin bei den Timbersportlern.
Im Wettkampfmodus braucht Nils Reise, der aus Staig-Altheim im Süden von Ulm kommt, etwa eine Minute, um den Stamm durchzuhauen. Der Weltmeister aus den USA, der nicht halb so sportlich aussieht wie der muskulöse 21-jährige Naturbursche, schafft es in 12,39 Sekunden. Man muss das wohl doch länger trainieren als das halbe Jahr, das Reise mitmischt bei den Sportholzfällern. Es ist deshalb nicht das Holzhacken, für das der Bundestrainer ihn in die Nationalmannschaft berufen hat, sondern das Sägen. Das kann der ausgebildete Forstwirt Reise tatsächlich auf Weltniveau. Wenn er am heutigen Freitag als jüngstes Mitglied der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Liverpool antritt, heißt sein Werkzeug deshalb Stock Saw, zu deutsch: Motorsäge.
500 Aktive in Europa
Timbersports nennt sich das, was da Anfang des Jahrtausends aus Kanada, den USA und Neuseeland auch nach Deutschland geschwappt ist. Europaweit gibt es mittlerweile 500 aktive Sportler. Nils Reise gehört erst seit wenigen Monaten dazu. Im Januar hat er sich am deutschen Basisstützpunkt in Mellrichstadt angemeldet – zu einem Schnupperkurs. „Ich wollte nur mal schauen, wie das so ist.“Doch in Mellrichstadt wurde schnell deutlich: Reise kann mit Werkzeug umgehen, er hat Kraft und die nötige Nervenstärke. Eine wertvolle Kombination im Sportholzfällen. „Nils ist sofort rausgestochen“, sagt Bundestrainer Phillip Vielwerth, der den 21-Jährigen im August in den Nationalkader berief. „Der ist einfach ein Ausnahmetalent.“
Beim Treffen in einem Wald bei Friedrichshafen konnte er noch nicht so recht glauben, was da gerade mit ihm passiert. An Reises dunkelblauem T-Shirt prangt das Logo des Motorsägenherstellers Stihl aus Waiblingen, der die Wettkämpfe ausrichtet. „Zum Glück bin ich mit meinem Job den ganzen Tag im Wald und an der Säge. So kann ich jetzt nebenher für die WM trainieren“, sagt er. „Sonst hätte ich dafür gar keine Zeit.“Der Borkenkäfer, der sich wegen der hohen Temperaturen dieses Jahr stark vermehren konnte, halte ihn zurzeit auf Trab. Der Lohnunternehmer, für den er arbeitet, sei deshalb gerade mitten im Holzschlag. „Brutal viel Arbeit“, sagt Reise.
Gespür für die Drehzahl
So trainiert Reise eben nebenher, immer dann, wenn er einen Baumstamm sieht, der Wettkampfmaße hat: Er stellt sich dann seitlich neben den Stamm, legt die Motorsäge auf den Boden, seine Hände nebeneinander auf den Stamm. Ein paar Sekunden verharrt er so, sammelt seine ganze Konzentration, um dann blitzschnell mit beiden Händen nach der Säge zu greifen und gleichmäßig eine Scheibe Holz abzusägen. „Man muss ein Gespür für die perfekte Drehzahl bekommen“, erklärt er. Ums Hinhören gehe es deshalb, und um das Gefühl für die Säge. „Auch wenn es vielleicht nicht so aussieht.“
Rund zehn Sekunden braucht er, wenn die Scheibe, wie im Wettkampf, einen Durchmesser von 46 Zentimetern hat. Damit spielt Reise bei den Sportholzfällern ganz oben mit. Hätte ihm jemand vor einem Jahr erzählt, dass er die Chance hat, Holzfäller-Weltmeister zu werden, Nils Reise hätte ihm wohl nicht geglaubt.
„Das ging alles ganz schön schnell“, gibt er zu. „Mir wurde schon gesagt, dass ich gut sei, aber ich dachte halt: Mei, wär auch schlecht, wenn ich nicht sägen könnt.
Ich mach das ja beruflich.“
Dass er sein Leben im Wald verbringen würde, stand für Reise dagegen schon früh fest. Mit der Axt ist er von Kindesbeinen an vertraut: Gerade mal drei Jahre alt war der kleine Nils, als er das erste Mal eine benutzte. „Meine Eltern haben mir das Ding damals einfach in die Hände gedrückt“, sagt er. „Dann durfte ich beim Holzmachen helfen.“Mit neun Jahren schrieb er einem Freund ins Poesiealbum, dass er später „im Wald als Holzmacher arbeiten“möchte. Er lacht, wenn er die Geschichte erzählt: „Alle anderen haben geschrieben, dass sie Fußballprofi werden wollen.“Mit dem Holzfällersport, sagt er, habe er jetzt seinen Beruf auch zum Hobby gemacht.
Bei der Weltmeisterschaft in
Liverpool ist
Reise Teil einer Viererstaffel. Er soll mit der Stock Saw den Anfang machen. Sobald er seine Aufgabe erledigt hat, beginnt sein Teamkollege mit dem Underhand Chop, den Reise vergangene Woche in der Nähe von Oberteuringen demonstriert hat (siehe kleines Foto). Es folgt der Single Buck, wobei der Athlet mit einer zwei Meter langen Einmannsäge eine Scheibe von einem waagrechten Stamm absägen muss. Der Schlussathlet tritt in der Disziplin Standing Block Chop an. Er zerteilt einen senkrechten Stamm mit der Axt. Alle Disziplinen simulieren klassische Holzfällarbeiten.
Das ist es auch, was für Nils Reise den Reiz der Sportart ausmacht: „Dieses Ursprüngliche beim Timbersport, diese Verbindung von Kraft und Präzision, das fasziniert einfach. So geht das allen Timbersportsathleten.“
Titelambitionen hat das deutsche Team nicht. Den fünften oder sechsten Platz strebe man an, verrät Bundestrainer Vielwerth. Mit der Konkurrenz aus Australien, Neuseeland, Kanada und den USA, wo schon seit mehr als 150 Jahren Holzfällerwettbewerbe ausgetragen werden, könne man noch nicht mithalten. „Aber wir wollen die Großen auf jeden Fall ein bisschen ärgern. Und wer weiß: Wenn die anderen einen Fehler machen, vielleicht ist dann doch was für uns drin.“
Für Nils Reise wird die Weltmeisterschaft der erste Timbersportswettkampf überhaupt sein. Aber mit Rekorden kennt er sich aus, das ist sein Metier. Die Ausbildung zum Forstwirt beendete er als Zweitbester im Land. Anschließend bekam er ein Stipendium und eine Gesellenjahrverkürzung. Mit gerade mal 20 schloss Nils Reise die Meisterschule ab und ist damit wahrscheinlich Deutschlands jüngster Forstwirtschaftsmeister. „Zumindest sagen mir das alle“, meint er und zuckt mit den Schultern.
Ein kleines bisschen Stolz schwingt in seiner Stimme mit, viel Aufhebens will er um sich aber nicht machen. „Ich bin halt gern im Wald.“Sagt’s, steigt in sein Auto ein und fährt davon. „Meister Nils für Sie unterwegs“, steht auf der Heckscheibe.
„Mei, wär auch schlecht, wenn ich nicht sägen könnt. Ich mach das ja beruflich.“
Nils Reise, ein Meister an der Kettensäge