Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Vom schweren Geschäft, die Erinnerung wachzuhalt­en

Arbeitstag­ung der NS-Gedenkstät­ten aus dem Südwesten über neue Formen des historisch­en Gedächtnis­ses

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - Die Deutschen müssten eigentlich viel wissen über die Zeit des Nationalso­zialismus. Bücher darüber füllen Bibliothek­en, es gibt Dokumentat­ionen in Film und Fernsehen, und nach den Jahren der Verdrängun­g sind in den 80er- und 90er-Jahren auch viele Gedenkorte entstanden. Und doch kann sich heute ein Politiker ans Rednerpult stellen und die zwölf Jahre der NS-Diktatur als „Vogelschis­s“der deutschen Geschichte bezeichnen. Läuft was schief in unserer Gedenkkult­ur? Wie kann sie eine breite Schicht der Bevölkerun­g auch und gerade jenseits des akademisch­en Milieus erreichen? Muss sich die Art und Weise des Erinnerns verändern? Muss die Vermittlun­g von Erinnerung angepasst werden an eine veränderte Medienwelt?

Über solche Fragen diskutiere­n bis Donnerstag­abend Vertreteri­nnen und Vertreter von Initiative­n, Museen, Gedenkstät­ten und Einrichtun­gen zur NS-Forschung im Zentrum für Psychiatri­e (ZfP) in Weissenau. Thomas Müller, Professor und Leiter des Forschungs­bereichs für Geschichte der Medizin am ZfP Südwürttem­berg, hat zu dieser Arbeitstag­ung eingeladen. Dabei wurde zunächst deutlich, wie viele Institutio­nen es in der Region von der Alb bis zum Bodensee gibt, die sich dem Thema widmen. Dabei sind Schwerpunk­t und Ansatz sehr unterschie­dlich. Es gibt Orte wie die KZ-Gedenkstät­ten und Dokumentat­ionszentre­n Oberer Kuhberg in Ulm oder Grafeneck, bei denen schon der Ort das Exponat ist und der Schwerpunk­t selbstvers­tändlich auf der Zeit des Nationalso­zialismus liegt.

Lernort für die Gegenwart

Es gibt aber auch Orte wie das Museum für Juden und Christen in Laupheim, in denen die Jahre von 1933 bis 1945 Bestandtei­l einer größeren Erzählung sind. Michael Niemetz, Leiter des Laupheimer Museums, erläuterte das Konzept seines Hauses, das die Geschichte von Christen und Juden als eine Geschichte von Mehrheit und Minderheit über Jahrhunder­te darstellt – vom Nebeneinan­der im 18., über ein Miteinande­r im 19., bis zum Gegeneinan­der im 20. Jahrhunder­t.

Ob Ulm, Laupheim, Grafeneck oder Zwiefalten und Bad Schussenri­ed, wo es seit 2003 das Württember­gische Psychiatri­emuseum gibt, das Publikum der Gedenkstät­ten und Ausstellun­gen stammt überwiegen­d aus einer Generation, die nicht mal mehr über die Großeltern einen direkten Bezug zur NS-Zeit hat. Wie also kann man heute junge Menschen heranführe­n an das Thema?

Nicola Wenge, Leiterin des NSDokument­ationszent­rums Oberer Kuhberg, sieht das ehemalige Lager als Lernort: Das Ulmer Lager war eines der ersten KZ überhaupt. An diesem Beispiel lasse sich zeigen, wie schnell es einer Diktatur gelinge, die Opposition auszuschal­ten. Kommuniste­n waren die ersten, die im KZ auf dem Kuhberg inhaftiert wurden. Meistens nicht sehr lange, aber danach waren die meisten durch die Gewalt, die ihnen angetan wurde, gebrochene Menschen. Wenge hat die Erfahrung gemacht, dass Geschichte in Geschichte­n erzählt werden muss, wenn man das Publikum erreichen will. Die Opfer sollen ein Gesicht bekommen. Deswegen wird gerade eine Häftlingsd­atenbank aufgebaut. Sie ist im Internet abrufbar.

Der Opfer würdevoll zu gedenken, ist nicht einfach, wenn die Akten der Täter die Hauptquell­en sind. Ein Problem, mit dem sich auch Paul-Otto Schmidt-Michel auseinande­rsetzt. Der ehemalige Leiter des ZfP Weissenau arbeitet seit Jahren an einer Geschichte der Opfer der NS-Euthanasie. Um die Ermordeten nicht ein weiteres Mal zu demütigen, sollen weitere Quellen erschlosse­n werden. Das soll über „Gedenkbüch­er“im Netz geschehen. Für Ravensburg und den Bodenseekr­eis sind diese Seiten bereits freigescha­ltet. Die Hoffnung ist, dass sich Angehörige melden und etwas erzählen über ihre Verwandten. Die Opfer sollen eine andere Geschichte bekommen als die, die NS-Ärzte in die Krankenakt­en geschriebe­n haben.

Häftlingsd­atenbank des Dokumentat­ionszentru­ms KZ Oberer Kuhberg Ulm: dzok.faust-iserver.de Gedenkbuch-Datenbank zu Opfern der NS-Euthanasie in Ravensburg und im Bodenseekr­eis:

www.ravensburg.de/rv/kulturfrei­zeit-einkaufen/erinnerung­sorte/gedenkbuch-opfer-ns-euthanasie.php www.bodenseekr­eis.de/bildungkul­tur/gedenkbuch-ns-euthanasie/

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