Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zerbrochene Liebe verleitet Mörder zur Flucht
In Friedrichshafen entflohener Strafgefangener steht unter anderem wegen schweren Raubes vor Gericht
RAVENSBURG - Vor 21 Jahren hat ihn das Landgericht Ravensburg wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Am Mittwoch musste der mittlerweile 43-jährige Mann an gleicher Stelle erneut auf der Anklagebank Platz nehmen. Wenige Tage vor einem Haftprüfungstermin hatte er im Dezember 2017 in Friedrichshafen einen begleiteten Ausgang zur Flucht genutzt. Dass er drei Tage später zwei Frauen überfallen beziehungsweise angegriffen und erpresst haben soll, gab er zum Prozessauftakt vollumfänglich zu.
Als der kleingewachsene Mann in Jogginghose und Kapuzenpulli seinen Platz im Gerichtssal einnimmt, hält er sich ein Blatt Papier vors Gesicht. Er wirkt ruhig, gefasst. Er kennt das Prozedere, das ihn nun erwartet, auch wenn die letzte seiner zahlreichen Verurteilungen schon 21 Jahre her ist. Fast die Hälfte seines Lebens sitzt er bereits in Haft, weil er 1997 in Ravensburg zusammen mit einem Kumpel so lange mit Händen und Füßen auf seinen damaligen Vermieter eingeprügelt hat, bis dieser verstarb.
Regungslos vernimmt er nun, was Staatsanwältin Christine Weiß ihm aktuell zur Last legt. Nachdem der Angeklagte am 14. Dezember 2017 einen begleiteten Ausgang zur Flucht genutzt hatte, soll er drei Tage später im Keller eines Wohngebäudes beim Klinikum Friedrichshafen eine Bewohnerin überfallen, diese mit einem Seil stranguliert und ihren Kopf gegen einen Holzverschlag und eine Betonwand geschlagen haben – weil er ihre Kreditkarte samt Geheimzahl haben wollte. Die Frau konnte sich letztlich in ihre Wohnung retten. Danach soll der Angeklagte versucht haben, das Auto einer Frau zu kapern, die gerade am Ausparken war.
Die Vorwürfe, die auf den Schilderungen der beiden Opfer beruhen, bestätigt der Angeklagte ohne jegliche Einschränkung – und erspart den beiden Frauen damit, sich vor Gericht detailliert zu den Geschehnissen äußern zu müssen. In Briefen hat er sich bei beiden mittlerweile entschuldigt, im Gerichtssaal wiederholt er dies. Während eine der Frauen im Zeugenstand zu verstehen gibt, dass es ihr mittlerweile wieder gut gehe, berichtet die andere, noch heute mit den Folgen für die Psyche zu kämpfen. Nichtsdestotrotz hat sie in einem Antwortbrief ihrem Peiniger verziehen. „Die Frage ist, ob Du Dir selbst verzeihen kannst“, schreibt sie außerdem.
Spontane Entscheidung
Zu seiner Flucht führt der Angeklagte aus, dass er diese nicht geplant habe. Es sei eine spontane Entscheidung gewesen, offenbar aufgrund einer zerbrochenen Liebe. In Friedrichshafen traf der Mann nicht nur seine Mutter, sondern auch jene Studentin der Filmakademie Ludwigsburg, in die er sich zu Beginn des Jahres während Dreharbeiten im offenen Vollzug verliebt hatte und mit der er wenig später eine Beziehung eingegangen war. Sie soll es auch gewesen sein, die ihn dazu ermuntert hat, einen Antrag auf vorzeitige Entlassung aus der Haft zu stellen. Zuvor war ein offener Vollzug in einer landwirtschaftlichen Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Heilbronn zweimal abgebrochen worden, nachdem der Angeklagte bei Ausgängen Alkohol getrunken hatte.
Der Traum von einer Zukunft in Freiheit, zusammen mit seiner Freundin, war für den Angeklagten aber schon vor dem Haftprüfungstermin ausgeträumt. Vor Gericht berichtet er, dass ihm besagte Freundin drei Tage vor dem Treffen in Friedrichshafen mitgeteilt habe, eine neue Partnerschaft eingegangen zu sein. Als seine Mutter vor dem Zeppelin Museum ein „Heile Welt“-Foto von ihm und seiner Noch-Freundin habe machen wollen, seien bei ihm „die Sicherungen durchgebrannt“. Er habe sich „den Kopf zusaufen“wollen. Als er im Restaurant des Museums zur Toilette gegangen sei, habe er einen günstigen Augenblick genutzt, um zu entkommen. „Ich dachte mir: Jetzt oder nie. Tschüssikowski.“Nach eigenen Angaben hatten ihn die beiden Begleiter der JVA Heilbronn alleine zur Toilette gehen lassen.
Die ersten zwei Tage habe er dann überwiegend in der Friedrichshafener Innenstadt verbracht, die Nächte im Keller eines Mehrfamilienhauses im Bereich der Moltkestraße. Als ihm das Geld für Lebensmittel und Alkohol ausging, sei er zu Fuß bis zum Klinikum in Manzell gelaufen, in der Hoffnung, dort an Tabletten zu gelangen. Kurz nach den Angriffen auf die beiden Frauen nahm ihn die Polizei im Klinikum fest. Nachdem Alkohol schon seit dem 14. Lebensjahr ein ständiger Begleiter des Angeklagten war, kamen im Gefängnis im Lauf der Jahre auch Drogen dazu. Aktuell erhält er Methadon und weitere Medikamente – insgesamt einen heftigen Cocktail, den der psychiatrische Sachverständige Hermann Aßfalg vor Gericht als „Suizidprophylaxe“bezeichnet.