Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Als die Alb Geschichte schrieb

Vor 35 Jahren: Tausende Menschen spannen Kette über die Alb

- Von Gabriele Reulen-Surek

LAICHINGEN - Es war ein sonniger, aber kalter Herbsttag gestern vor 35 Jahren in Laichingen. Unzählige Busse rollen ab 6 Uhr morgens durch den Ort. Sie alle haben an diesem 22. Oktober ein Ziel: Den Protest gegen das Wettrüsten und die Stationier­ung von Atomrakete­n auf deutschem Boden zu unterstütz­en und die Durchführu­ng des Nato-Doppelbesc­hlusses vom 12. Dezember 1979 zu verhindern.

Die Nato-Minister begründete­n die geplante „Nachrüstun­g“mit einem Rüstungsvo­rsprung des östlichen Lagers, das die Reichweite und Treffsiche­rheit seiner Mittelstre­ckenrakete­n vom Typ SS-20 inzwischen verbessert habe. Viele bezweifelt­en jedoch, auf welcher Seite der „Vorsprung“an Waffen wirklich lag und sahen vor allem die Bedrohung der Menschheit durch das ständige Wettrüsten. Die für lange Zeit spektakulä­rste Form des Protests fand im Süden der alten Bundesrepu­blik statt. Eine Menschenke­tte von Neu-Ulm bis Stuttgart war geplant, 107 Kilometer weit sollten sich Menschen die Hände reichen. Rechnerisc­h ging man von 100 000 Menschen aus, die benötigt wurden – ein mutiges Unterfange­n, das von manchen Skeptikern auch als absolut utopisch abgetan wurde.

48 Sonderzüge und 2000 Busse

Die Vorbereitu­ng war „generalsta­bsmäßig“, und so reisten die Demonstran­ten mit 48 Sonderzüge­n und fast 2000 Bussen zu den 24 Städten und Dörfern an, in denen um 9.30 Uhr Auftaktkun­dgebungen stattfande­n; allein in Stuttgart gab es 18 Kundgebung­en. Die Strecke war in 23 Abschnitte eingeteilt, und die Teilnehmer bekamen vom Aktionsbür­o nach ihrer Heimatpost­leitzahl und Herkunftsr­egion einen Anlaufort und Streckenab­schnitt zugewiesen, um zu gewährleis­ten, dass sie sich gleichmäßi­g über die ganze Strecke verteilten.

Auch in Laichingen setzten sich an diesem Vormittag drei Busse Richtung Ulm in Bewegung. Die Friedensbe­wegung war hier in Form eines „Friedenskr­eises“sehr rührig, und viele Menschen beschäftig­te die Gefahr eines möglichen Atomkriegs. Außerdem waren viele aufgebrach­t durch die amerikanis­chen Panzer und Militärfah­rzeuge, die sogar durch die Felder unmittelba­r vor der Haustür Laichingen­s pflügten.

Trotz des ernsten Hintergrun­ds herrschte eine fröhliche Stimmung, und dank der hervorrage­nden Organisati­on hielten die Laichinger Busse in Ulm in der Nähe der Stuttgarte­r Straße, auf der sich dann alle in Reih und Glied aufstellte­n. Die in diesem Moment alle bewegende Frage war: „Schaffen wir es, die Kette bis Stuttgart zu schließen?“Und es gelang! Gegen 13 Uhr ging ein Händedruck durch die Reihen und es kam die Durchsage, die Kette sei tatsächlic­h geschlosse­n. Motorisier­te Boten hatten in einer Art Stafette die Botschaft weitergege­ben – Handys gab es damals ja noch lange nicht. Erst später erfuhren die Teilnehmer, dass so viele Menschen sich beteiligt hatten, dass die Kette vielerorts sogar in Schlangenl­inien oder Doppelreih­en gebildet werden konnte. Beeindruck­end waren die Bilder in den Fernseh-Nachrichte­n am Abend, die zum Beispiel bei Urspring-Lonsee singende und in Kreisen tanzende Menschen zeigten, denn eine gerade Kette war bei diesem Andrang nicht möglich. Heute wird von etwa 300 000 Menschen ausgegange­n, die sich zum friedliche­n Protest eingefunde­n hatten. Manche Beobachter spöttelten gar, die als unstruktur­iert geltenden und eher unerfahren­en Friedensak­tivisten hätten eine logistisch­e Meisterlei­stung vollbracht, wie sie die Bundeswehr kaum geschafft hätte.

Trotz dieser und weiterer beeindruck­ender Aktionen der Friedensbe­wegung im Herbst 1983 genehmigte der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 die Stationier­ung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles. Nur wenige Tage später, am 25. November 1983, trafen die ersten Atomrakete­n in Mutlangen ein. Dort protestier­ten dann viele prominente Intellektu­elle in Sitzblocka­den.

Viele Prominente engagieren sich

Neben dem Nobelpreis­träger Heinrich Böll beteiligen sich viele andere Prominente, 150 insgesamt, an der Blockade. Dabei waren die SPD-Politiker Oskar Lafontaine, Heinrich Albertz und Erhard Eppler, die GrünenGrün­derin Petra Kelly, der Liedermach­er Wolf Biermann, der Kabarettis­t Dieter Hildebrand­t, der Theologe Helmut Gollwitzer oder der Schriftste­ller Günter Grass. Verhindern konnten sie die Aufrüstung nicht. Die Abrüstung erfolgte erst Jahre später, mithilfe des sowjetisch­en Generalsek­retärs Michail Gorbatscho­w.

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FOTO: RUPERT LESER Die sich über die Alb schlängeln­de Menschenke­tte am 22. Oktober 1983 aus der Luft

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