Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Als die Alb Geschichte schrieb
Vor 35 Jahren: Tausende Menschen spannen Kette über die Alb
LAICHINGEN - Es war ein sonniger, aber kalter Herbsttag gestern vor 35 Jahren in Laichingen. Unzählige Busse rollen ab 6 Uhr morgens durch den Ort. Sie alle haben an diesem 22. Oktober ein Ziel: Den Protest gegen das Wettrüsten und die Stationierung von Atomraketen auf deutschem Boden zu unterstützen und die Durchführung des Nato-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 zu verhindern.
Die Nato-Minister begründeten die geplante „Nachrüstung“mit einem Rüstungsvorsprung des östlichen Lagers, das die Reichweite und Treffsicherheit seiner Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 inzwischen verbessert habe. Viele bezweifelten jedoch, auf welcher Seite der „Vorsprung“an Waffen wirklich lag und sahen vor allem die Bedrohung der Menschheit durch das ständige Wettrüsten. Die für lange Zeit spektakulärste Form des Protests fand im Süden der alten Bundesrepublik statt. Eine Menschenkette von Neu-Ulm bis Stuttgart war geplant, 107 Kilometer weit sollten sich Menschen die Hände reichen. Rechnerisch ging man von 100 000 Menschen aus, die benötigt wurden – ein mutiges Unterfangen, das von manchen Skeptikern auch als absolut utopisch abgetan wurde.
48 Sonderzüge und 2000 Busse
Die Vorbereitung war „generalstabsmäßig“, und so reisten die Demonstranten mit 48 Sonderzügen und fast 2000 Bussen zu den 24 Städten und Dörfern an, in denen um 9.30 Uhr Auftaktkundgebungen stattfanden; allein in Stuttgart gab es 18 Kundgebungen. Die Strecke war in 23 Abschnitte eingeteilt, und die Teilnehmer bekamen vom Aktionsbüro nach ihrer Heimatpostleitzahl und Herkunftsregion einen Anlaufort und Streckenabschnitt zugewiesen, um zu gewährleisten, dass sie sich gleichmäßig über die ganze Strecke verteilten.
Auch in Laichingen setzten sich an diesem Vormittag drei Busse Richtung Ulm in Bewegung. Die Friedensbewegung war hier in Form eines „Friedenskreises“sehr rührig, und viele Menschen beschäftigte die Gefahr eines möglichen Atomkriegs. Außerdem waren viele aufgebracht durch die amerikanischen Panzer und Militärfahrzeuge, die sogar durch die Felder unmittelbar vor der Haustür Laichingens pflügten.
Trotz des ernsten Hintergrunds herrschte eine fröhliche Stimmung, und dank der hervorragenden Organisation hielten die Laichinger Busse in Ulm in der Nähe der Stuttgarter Straße, auf der sich dann alle in Reih und Glied aufstellten. Die in diesem Moment alle bewegende Frage war: „Schaffen wir es, die Kette bis Stuttgart zu schließen?“Und es gelang! Gegen 13 Uhr ging ein Händedruck durch die Reihen und es kam die Durchsage, die Kette sei tatsächlich geschlossen. Motorisierte Boten hatten in einer Art Stafette die Botschaft weitergegeben – Handys gab es damals ja noch lange nicht. Erst später erfuhren die Teilnehmer, dass so viele Menschen sich beteiligt hatten, dass die Kette vielerorts sogar in Schlangenlinien oder Doppelreihen gebildet werden konnte. Beeindruckend waren die Bilder in den Fernseh-Nachrichten am Abend, die zum Beispiel bei Urspring-Lonsee singende und in Kreisen tanzende Menschen zeigten, denn eine gerade Kette war bei diesem Andrang nicht möglich. Heute wird von etwa 300 000 Menschen ausgegangen, die sich zum friedlichen Protest eingefunden hatten. Manche Beobachter spöttelten gar, die als unstrukturiert geltenden und eher unerfahrenen Friedensaktivisten hätten eine logistische Meisterleistung vollbracht, wie sie die Bundeswehr kaum geschafft hätte.
Trotz dieser und weiterer beeindruckender Aktionen der Friedensbewegung im Herbst 1983 genehmigte der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles. Nur wenige Tage später, am 25. November 1983, trafen die ersten Atomraketen in Mutlangen ein. Dort protestierten dann viele prominente Intellektuelle in Sitzblockaden.
Viele Prominente engagieren sich
Neben dem Nobelpreisträger Heinrich Böll beteiligen sich viele andere Prominente, 150 insgesamt, an der Blockade. Dabei waren die SPD-Politiker Oskar Lafontaine, Heinrich Albertz und Erhard Eppler, die GrünenGründerin Petra Kelly, der Liedermacher Wolf Biermann, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der Theologe Helmut Gollwitzer oder der Schriftsteller Günter Grass. Verhindern konnten sie die Aufrüstung nicht. Die Abrüstung erfolgte erst Jahre später, mithilfe des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow.