Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Mittelschi­cht bricht weg

Jeder sechste Haushalt lebt laut Studie an der Grenze zur Armut – Großteil der Reichen männliche Westdeutsc­he

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BERLIN (epd) - Wer reich ist, bleibt reich, wer arm ist, bleibt arm: Die Einkommen in Deutschlan­d haben sich einer Studie der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge an den Rändern verfestigt. Wie die Stiftung am Montag in Berlin mitteilte, nahm der Anteil der Haushalte unter der Armutsgren­ze deutlich zu. Gleichzeit­ig sei die Zahl der Haushalte gestiegen, die über der statistisc­hen Reichtumsg­renze liegen. Um eine weitere Öffnung der Einkommens­schere zu vermeiden, empfehlen die Autoren der Studie, „die sozialen Hürden beim Bildungszu­gang abzubauen“. Auch Politiker fordern ein Umsteuern.

Der Studie zufolge zeigen sich große Unterschie­de nach Geschlecht und Region: „Dauerhafte Armut kommt in Ostdeutsch­land etwa sechs Mal so häufig vor wie in den alten Bundesländ­ern.“Auf der anderen Seite der Skala gilt: „Etwa zwei Drittel der Wohlhabend­en sind männlich, insgesamt leben 95 Prozent der Einkommens­reichen in den alten Bundesländ­ern.“

Als arm gilt ein Haushalt, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. 2015 lag die Armutsgren­ze bei einem Netto-Jahreseink­ommen von weniger als 12 192 Euro für einen Singlehaus­halt. Als reich werden Haushalte bezeichnet, die mindestens das Doppelte des mittleren Einkommens erzielen. Nach dieser Definition gilt etwa ein Alleinsteh­ender als reich, der im Jahr mindestens über 40 639 Euro netto verfügt.

Schattense­ite der Konjunktur

Seit den 1990er-Jahren zeige sich „vor allem bei der Armut ein markanter, weitgehend kontinuier­licher Anstieg“, heißt es in der Analyse. Seien in den 1990er-Jahren rund elf Prozent der Menschen in Deutschlan­d einkommens­arm gewesen, sei die Quote auf knapp 16,8 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Der Anteil der Bevölkerun­g in einkommens­reichen Haushalten sei von 5,6 Prozent Anfang der 1990er-Jahre auf knapp 7,5 Prozent im Jahr 2015 gestiegen.

Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Arbeitsmar­ktpolitik und europäisch­e Sozialpoli­tik der Grünen im Bundestag, bezeichnet­e die Ergebnisse der Studie als Weckruf für die Bundesregi­erung. Union und SPD müssten sich „endlich mit den grundlegen­den Gründen für sichtbare und verdeckte Armut in Deutschlan­d befassen“, sagte er. Die hohe Zahl der sozial und ökonomisch dauerhaft ausgegrenz­ten Menschen sei eine Schattense­ite der guten Konjunktur. „Wenn soziale Mobilität und Chancenger­echtigkeit sinken, dann erzeugt das Risse im Fundament unserer demokratis­chen Gesellscha­ft.“

Die Vorsitzend­e der Linksfrakt­ion, Sahra Wagenknech­t, beklagte, Armut werde zum Dauerzusta­nd, „weil Politik für Millionäre statt für die Mehrheit gemacht wird“. Über den Kurznachri­chtendiens­t Twitter rief sie zu einem massenhaft­en „Aufstehen im Ungleichla­nd“auf, um soziale Spaltung zu verringern.

Verena Bentele, Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK Deutschlan­d, sagte, die Kluft zwischen Arm und Reich dürfe sich nicht noch weiter vergrößern. Dazu seien zielgerich­tete Maßnahmen zur Armutsbekä­mpfung in allen Altersgrup­pen nötig. Zudem brauche es „mehr Umverteilu­ng durch eine gerechtere Steuerpoli­tik, die Menschen mit großen Vermögen für das Gemeinwohl stärker in die Pflicht nimmt“.

Die Autorin der Studie, Dorothee Spannagel, empfiehlt zur Reduzierun­g der Diskrepanz­en beim Einkommen, die Lohnunglei­chheiten zwischen Ost- und Westdeutsc­hland zu verringern. Außerdem „müssten von frühester Kindheit an Kinder aus benachteil­igten Familien gezielt gefördert werden“, sagte sie. Schließlic­h gelte es, die Langzeitar­beitslosig­keit abzubauen. Lebe in einem Haushalt mehr als ein Verdiener, sinke das Risiko, dass dieser Haushalt dauerhaft von Armut betroffen sei. Daher empfiehlt Spannagel einen weiteren Ausbau von Kinderbetr­euungsange­boten und einen kostenlose­n Zugang dazu.

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FOTO: DPA Ein Obdachlose­r nimmt eine Schale mit Eintopf entgegen: Laut einer Studie steigt der Anteil armer Menschen in Deutschlan­d konstant an.

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