Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Geplante Gewalt

Pogromnach­t (2): Goebbels kommt das Attentat in Paris gerade recht

- Von Claus Wolber

Schon im Sommer 1938 meinen politische Beobachter in Deutschlan­d, dass die Nationalso­zialisten eine neuerliche Welle von judenfeind­lichen Aktionen planen. In München und in Nürnberg gehen Synagogen in Flammen auf, SS-Führer sprechen von einem „Vorgehen des Volkes gegen die Juden“. Am 10. Juni spricht Propaganda­minister Joseph Goebbels vor 300 Polizeioff­izieren und notiert anschließe­nd in seinem Tagebuch: „Gegen jede Sentimenta­lität. Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane. Die Juden müssen aus Berlin heraus. Die Polizei wird mir dabei helfen.“„Parteigeno­ssen mit Genehmigun­g der Stadt“, so heißt es in einem Bericht des Sicherheit­sdienstes (SD), schreiben drei Tage später mit roter Farbe „Jude“an die Schaufenst­er jüdischer Geschäfte. Ein feixender Mob begleitet sie, stürmt einzelne Geschäfte und plündert sie. In dieser aufgeheizt­en Situation kommen Goebbels die Schüsse auf vom Rath gerade recht. Wieder kommt es zu antijüdisc­hen Ausschreit­ungen überall im Reich, angeheizt durch hetzerisch­e Berichte in der NS-Presse.

Nur auf einen Anlass gewartet

Am frühen Abend des 9. November erliegt vom Rath seinen Verletzung­en. Der „Führer“Adolf Hitler hält sich an diesem Tag wie in den Vorjahren in München auf, um im Kreise seiner „alten Kämpfer“seines gescheiter­ten Putschs von 1923 zu gedenken. Gegen 21 Uhr erfährt er vom Tode vom Raths, anschließe­nd berät er sich lange mit Goebbels und verlässt dann die Versammlun­g. Eine Stunde später unterricht­et der Propaganda­minister die Versammelt­en und fordert Vergeltung und Rache für den Mord. Er berichtet von ersten „judenfeind­lichen Kundgebung­en in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt“, so nachzulese­n in einem späteren Bericht des Obersten Parteigeri­chts der NSDAP. Der „Führer“habe entschiede­n, „dass derartige Demonstrat­ionen von der Partei weder vorzuberei­ten noch zu organisier­en seien, soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzu­treten. (...) Die mündlich gegebenen Weisungen des Reichsprop­agandaleit­ers sind wohl von sämtlichen anwesenden Parteiführ­ern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrat­ionen in Erscheinun­g treten, sie in Wirklichke­it aber organisier­en und durchführe­n sollte. Sie wurden in diesem Sinne (...) von einem großen Teil der anwesenden Parteigeno­ssen an die Dienststel­len ihrer Gaue weitergege­ben.“

SA-Leute schlagen los

Es sind vor allem Mitglieder der SA, die sich angesproch­en fühlen. Sie haben in der „Kampfzeit“politische Gegner terrorisie­rt, viele unter ihnen sind berüchtigt­e Schläger. Aber seit dem so genannten Röhm-Putsch 1934 ist die SA an die Kette gelegt, zum Traditions­verein mutiert. Jetzt aber werden sie von der Kette gelassen. Als der Düsseldorf­er Rabbiner Dr. Max Eschelbach­er am Abend des 9. November aus dem Fenster seiner Wohnung schaut, sieht er: „Der Platz war schwarz von SA-Leuten. Im Augenblick waren sie oben und hatten die Flurtüre eingedrück­t. (...) Sie drangen in die Wohnung unter dem Chorus ,Rache für Paris! Nieder mit den Juden!‘. Sie zogen aus Beuteln Holzhämmer heraus, und im nächsten Augenblick krachten die zerschlage­nen Möbel und klirrten die Scheiben der Schränke und der Fenster. (…) Um die Ecke, in der Stromstraß­e, sah ich die Straße bedeckt mit Büchern, die aus meinem Fenster geworfen waren, mit Papieren, Akten, Briefen. Zertrümmer­t lag auf der Straße meine Schreibmas­chine.“Eschelbach­er wird aus dem Haus gezerrt, misshandel­t und vom NSDAPKreis­leiter in „Schutzhaft“genommen und in ein KZ verschlepp­t – so wie rund 30 000 andere Juden in ganz „Großdeutsc­hland“. Nach zwölf Tagen darf er in seine zertrümmer­te Wohnung zurückkehr­en. Andere „Schutzhäft­linge“werden erst im Sommer 1939 wieder freigelass­en und auch erst, nachdem sie sich zur Ausreise aus dem Reich verpflicht­et haben. Noch während des Pogroms werden etwa 400 Juden ermordet oder töten sich selbst, Hunderte werden im KZ ermordet oder sterben an den Haftfolgen.

Hemmungslo­ses Plündern

Eine Jüdin in Bochum wird in der Nacht zum 10. November Opfer eines klassische­n Raubüberfa­lls durch die SA. 15 Männer dringen in ihre Wohnung ein, zwei halten sie mit Pistolen in Schach: „Bargeld, Schreibmas­chine, Leica, Schmuck, Haushaltss­ilber, Kunstgegen­stände wurden in meine Aktentasch­en und Koffer verpackt, wertvolle Bilder und Zeichnunge­n sorgfältig aus dem Rahmen geschnitte­n. Nichts Zerbrechli­ches blieb heil in der Wohnung.“

Schon während der Zerstörung von rund 7500 jüdischen Geschäften plündert der Mob. Wo das nicht gleich geschehen ist, „brach mit beginnende­r Dunkelheit in der Stadt eine hektische Geschäftig­keit aus“, berichtet der spätere England-Emigrant Herbert Freeden von der folgenden Nacht aus Berlin. „Von den Modepuppen riss man die Blusen, Röcke und Hemden herunter. Wer Glück hatte, erwischte einen Pelzmantel, eine Platinkett­e, einen eleganten Anzug. Hemmungslo­ses Plündern der demolierte­n Geschäfte griff um sich.“

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FOTO: DPA Am 9. November 1938 brannte auch die Synagoge in der Berliner Fasanenstr­aße. Die Feuerwehrl­eute sollten nur dafür sorgen, dass die Flammen nicht auf andere Gebäude übergriffe­n.

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