Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ganz großes Kino

Kirill Serebrenni­kovs mitreißend­er Musikfilm „Leto“

- Von Rüdiger Suchsland

Eine Dreiecksge­schichte aus dem Herbst des sowjetisch­en Jahrhunder­ts erzählt Kirill Serebrenni­kov in seinem Film „Leto“. Der seit Monaten unter Hausarrest stehende Regisseur lässt die Zeit des Aufbruchs in den frühen 1980er-Jahren wieder auferstehe­n. Während sowjetisch­e Truppen gerade in Afghanista­n einmarschi­eren, entdeckt ein Dutzend junger Leute in Leningrad New Wave und Punk. Die zwei russischen Bands Zoopark und Kino stehen für das kulturelle Tauwetter zum Ende des Kalten Kriegs.

„Leto“basiert auf der autobiogra­fischen Vorlage von Natalia Naumenko, dem realen Vorbild für Natasha. Diese ebenso intelligen­te wie charmante junge Frau verdreht den Musikern Mike und Viktor den Kopf, beide sind Freunde und Musiker.

Der 49-jährige Serebrenni­kov ist trotz einiger früherer Filme ein unbeschrie­benes Blatt im Kino, „Leto“aber wurde in Cannes gefeiert. Serebrenni­kov ist als Opernregis­seur bekannt. In Stuttgart hat er, bereits aus dem Arrest heraus, „Salome“inszeniert, vergangene Woche hatte seine, ebenfalls nur ferngesteu­ert erarbeitet­e „Così-fan-tutte“-Inszenieru­ng in Zürich Premiere.

Vorboten des Tauwetters

Ein Sonntag am Strand, eine Gruppe Jugendlich­er, mit Wein, Wodka, Musik, irgendwann wird nackt gebadet und am Lagerfeuer gesungen, und die zwei Neuen in der Gruppe gehören nun auch dazu. Eines der Lieder heißt „Sommer“, auf Russisch „Leto“. Zu Beginn war die Kamera Gast bei einem halblegale­n Konzert in einem Hinterhof, ein paar Herren von der Partei sorgen dafür, dass Emotionen schnell wieder verschwind­en. Es spielt eine Band namens Zoopark, wir sehen den Frontmann Mike, wir sehen Natasha, Mikes Freundin, und einen ganzen Haufen Leute, die wir bald besser kennenlern­en werden. Weil es UdSSR ist, blickt man anders hin, bemerkt Adidas-Schuhe, westliche Musik. Man bemerkt auch, wie großartig die Kamera ist, wie sie in fließenden Bewegungen sensibel beobachtet, die Blicke der Figuren aufeinande­r glänzend und präzis auffängt, Beziehunge­n stiftet, wie sie Teilnehmer ist.

Heute sind die Punk-Rock-Gruppen Zoopark und Kino Musiklegen­den. Sie waren Vorboten einer anderen Zukunft, die unter den Begriffen Glasnost und Perestroij­ka bald auch den Westen verzaubert­e und für die liberalen Seiten der Sowjetkult­ur einnahm. An diesem Nachmittag fing alles an.

Die Geschichte von Natasyha, Mike und Viktor sorgt neben der Musik für emotionale Dynamik. Die drei Hauptfigur­en werden gleichbere­chtigt behandelt. Viktor (Teo Yoo) ist der Rätselhaft­e, Natasha (Irina Starshenba­um) die Kluge, Gelassene, Skeptische. Mike (Roman Bilyk) hat die schönsten Drehbuchsä­tze, und er ist der Großzügigs­te: Er schenkt Ideen, Studiovert­räge, und rettet spontan die missglückt­e Performanc­e eines Freundes. Er hilft sogar Viktor, obwohl der sein Rivale ist.

„Leto“ist ganz großes Kino, das in Form einer privaten Geschichte das Bild einer ganzen Gesellscha­ft entfaltet. Was vor allem begeistert, ist die Inszenieru­ng: Ein Schwarzwei­ßfilm, unterbroch­en von Farbspreng­seln und Animation. Die Montage ist überaus schnell und dynamisch, geprägt von mitreißend­er New-WaveMusik.

Dies ist ein Film voller Romantik, dessen Form wie Figuren und Handlung universal sind und weit über das gewohnte postsowjet­ische Aufarbeitu­ngskino hinausgehe­n. Und irgendwann kommt einem natürlich Francois Truffauts „Jules und Jim“in den Sinn. Auch „Leto“widerspric­ht dem anti-utopischen Pessimismu­s: Serebrenni­kov zeigt schöne Menschen, die schöne Dinge machen, er zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und einen großzügige­n Umgang der Menschen untereinan­der.

Ein mitreißend­er Musikfilm und vielleicht überhaupt der beste Film des Jahres!

Leto. Regie: Kirill Serebrenni­kov. Mit Roma Zver, Irina Starshenba­um. Russland/Frankreich 2018, 128 Min., OmU, FSK ab 12 Jahren.

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FOTO: WELTKINO Roma Zver als Mike (links) und Teo Yoo als Viktor in „Leto".

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