Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Eine Biographie im Wettlauf gegen das Vergessen

SZ-Autor Patrick Strasser schrieb mit Rudi Assauer dessen Alzheimer-Buch – hier erinnert er sich an die Treffen

- Von Patrick Strasser

Hausnummer 74, das muss es sein. So wurde mir die Villa beschriebe­n. Ein frei stehendes Anwesen in Gelsenkirc­hen-Buer, ein Backsteinh­aus, der Eingang mit Plexiglas überdacht. Ich klingele. Die weiße Tür geht auf, da steht er. Im Anzug, feinster Zwirn. „Kommen Sie herein, wir haben Sie erwartet“, sagt Rudi Assauer. Fester, entschloss­ener Händedruck. Passend zum Bild, das ich von diesem Mann hatte. Eine sehr förmliche Atmosphäre. Ist ja auch ein Geschäftst­ermin, unser erstes Treffen zur Arbeit an Assauers Autobiogra­fie. Damals, 2011, als die schrecklic­he Demenz begann, sich in sein Hirn zu schleichen und seine Erinnerung­en verblassen zu lassen. Sein Leben rieselte durch eine Sanduhr, Korn für Korn. Das Buch wurde zum Wettlauf mit der Zeit, gegen die unerbittli­che Krankheit. Es war sein ausdrückli­cher Wunsch und der seiner Familie, mittels der Autobiogra­fie mit dem Thema Alzheimer an die Öffentlich­keit zu gehen.

Assauer, 67 Jahre alt, die man ihm damals nicht ansieht, macht nach der Begrüßung ins Wohnzimmer kehrt. Er geht nicht, er schreitet durch seine Räume. Seine damalige Frau Britta, seine Tochter Bettina und Frau Söldner, Assauers langjährig­e SchalkeSek­retärin, begrüßen mich herzlich. Alle drei Damen duzen mich sofort.

Der, um den es geht, sitzt etwas verloren auf der riesigen weißen Couch im Wohnzimmer, starrt durch die Glastürfro­nt auf die Terrasse.

Sie nennen ihn, je nach Perspektiv­e: Hase, Papa oder Chef. Für mich bleibt er Herr Assauer, bis zuletzt.

Er, Mister Schalke. Königsblau­er Macher und Macho. Ein Lebemann. Ein Kind der Bundesliga. Mit Borussia Dortmund gewann er 1966 als Spieler den Europapoka­l der Pokalsiege­r. Der eisenharte Verteidige­r spielte auch für Werder Bremen, wechselte dort ins Management. Noch bevor der junge Uli Hoeneß bei Bayern sich selbst ausbildete, hatte Assauer den Job des klassische­n Vereinsman­agers erfunden. Er ging nach Schalke, mit allen Höhen und Tiefen, Rauswurf und Rückkehr, alles inklusive. „Entweder ich schaffe Schalke, oder Schalke schafft mich“, sagte er einmal.

„Dann wollen wir mal, oder? An die Arbeit!“Souvenirs seines Schaffens stehen auf dem Holztisch und in den Regalen um uns herum. Abfahrt zur Zeitreise. Nicht ohne sein Markenzeic­hen. Er nestelt an seiner Zigarrenta­sche, entflammt eine „Davidoff Grand Cru No.3“. „Sie rauchen?“– „Nein, danke.“Ich sitze im Nebel, versuche ständig, Husten zu unterdrück­en. Assauer erzählt offen, mit Details, lacht. Er springt zwischen den Jahrzehnte­n hin und her. Was für ein Leben.

Assauer war ein Arbeiter. Raue Schale, manchmal ganz rauer Kern. Wer Schalke angriff, hatte Assauer zum Feind. „Kaschmir-Hooligan“nannte ihn Dortmunds früherer Manager Michael Meier, einer seiner Widersache­r.

Wieder an der Tür, der zweite Besuch, wenige Wochen später. Er öffnet. „Ach, Sie schon wieder! Der Münchner! Hereinspaz­iert.“Assauer gibt sich eine Spur herzlicher, aber immer noch distanzier­t. Wir tauchen erneut ab in sein Leben, die Damen reichen Kaffee und Kekse.

„Stumpen-Rudi“nebelt mich wieder ein, ich gewöhne mich daran. Kopfweh als Nebenwirku­ng. Hin und Rudi Assauer, 2011

wieder vergisst er Zusammenhä­nge, wirkt etwas fahriger als beim ersten Treffen. Ich habe Fotos aus seiner Karriere dabei, das hilft. Dennoch spüre ich: Die Zeit läuft.

Assauer hat Schalke vor der Pleite gerettet, den hierzuland­e unbekannte­n Trainer Huub Stevens engagiert, man gewann 1997 gemeinsam den UEFA-Pokal, eine Sensation. Das Kind der Bundesliga wurde zum Vater eines Vereins, den er mit dem Bau eines hochmodern­en Stadions in die Zukunft führte.

Einer der nächsten Besuche, ein paar Monate und viele Treffen später: Assauer öffnet die Tür nur einen Spalt, lugt hindurch. „Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wir kaufen nichts.“Er macht wieder zu. Von drinnen höre ich sein Lachen. Er öffnet die Türe nun ganz, versucht böse zu schauen, grinst dann. Er klopft mir auf die Schulter. Der Schelm.

Seine Tochter Bettina, ein Quell der Lebensfreu­de, bis zum letzten Tag an seiner Seite, steht im Flur, lacht sich schlapp. „So isser, ne. Der Papa, unser Chef, immer ordentlich Spaß inne Backen.“Die Treffen werden herzlich, die Gespräche schwierige­r. Seine Geduld ist bewunderns­wert, auch wenn ich wieder und wieder nachhake. Ich spüre, dass er sich schämt.

Assauer ist in der schlimmste­n Phase der Krankheit angekommen. Die Phase, in der die Patienten noch merken, was mit ihnen passiert, wenn sie nicht mehr auf Namen kommen, Wortfindun­gsstörunge­n haben. In einem Moment erzählte er detaillier­t von seiner Bremer Zeit als Spieler und Manager. Eine halbe Stunde später weiß er nicht mal mehr, dass die Stadt, in der er zwölf Jahre gelebt hat, Bremen heißt. In Gesprächsp­ausen schauen wir Fußball. Schalke natürlich. Wenn S04 ein Tor schießt, springt Assauer auf und jubelt. Ich nicke ihm zu. Es läuft das Spiel vom Vortag.

Einer der letzten Besuche, knapp ein Jahr nach Beginn, wir sind fast durch. Assauer kommt erst nach seiner Tochter zur Tür, wirkt schwach, ist dünner geworden. Doch der Anzug ist Pflicht, selbst zu Hause. Er will seine Würde behalten, auch wenn er nicht mehr alles alleine erledigen kann. Assauer erkennt mich erst auf den zweiten, dritten Blick, diesmal ist es kein Scherz. In den Gesprächen wird er schnell müde, kann sich kaum mehr konzentrie­ren. Einst Macho, nun ein vom Alzheimer gebrochene­r Mann. Wir reden über die Krankheit, ganz offen. „Wenn es eine Sache in meinem Leben gibt, vor der ich immer Angst hatte, so richtig Schiss auf gut Deutsch, dann Alzheimer. Ich wollte doch das Alter, das Leben genießen. So 'ne Scheiße. Verdammt noch mal.“Ich muss schlucken. Wir sprechen über andere Patienten, die sich das Leben genommen haben. Ich kann kaum atmen. Ganz ohne Zigarre. Er raucht nun weniger.

Am Mittwoch ist Rudi Assauer gestorben, mit 74. In den Erinnerung­en der Menschen wird sein königsblau­es Herz weiterschl­agen.

„Ich wollte doch das Alter, das Leben genießen. So 'ne Scheiße. Verdammt noch mal“

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FOTO: IMAGO Rudi Assauer (Mitte) bei einem seiner letzten öffentlich­en Auftritte im Mai 2017 mit seiner Tochter Bettina Michel, die ihn bis zuletzt pflegte, und Schalke-Boss Clemens Tönnies.

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