Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Russland geht es um rein geopolitis­che Zwecke“

Nord Stream 2 hat nach Ansicht des Politikwis­senschaftl­ers Wolfgang Seibel die EU gespalten – Die Schuld sieht er in Deutschlan­d

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STUTTGART - Mit dem PipelinePr­ojekt Nord Stream 2 hat sich Deutschlan­d in der EU isoliert – das sagt der Politikpro­fessor Wolfgang Seibel. Im Gespräch mit Kara Ballarin erklärt er, warum die Gasleitung politisch so brisant ist.

Warum hat sich der Streit um Nord Stream 2 nun so zugespitzt?

Grundlage ist das Dritte Energiepak­et der EU von 2009. Es sieht eine Entflechtu­ng von Produktion und Verteilung von Gas vor und hat sich damals schon gegen den russischen Konzern Gazprom gerichtet. Kontext war der Georgienkr­ieg von 2008: Die EU-Staaten wollten sich weniger abhängig machen von Russland. Die Bundesregi­erung hat sich bei Nord Stream 2 von Anfang an nicht darum geschert und argumentie­rt: Die Pipeline verläuft durch internatio­nales Gewässer. Deshalb gelten die EU-Regeln nicht. Das ist formal korrekt. Deshalb will die EU diese Rechtslück­e nun nachschärf­en – das wollte Deutschlan­d tunlichst verhindern.

Was ist problemati­sch an der russischen Pipeline?

Wir haben es erlebt, dass Russland Energiepol­itik als Druckmitte­l benutzt – unter anderem im Konflikt mit der Ukraine. Nord Stream 2 ist für Gazprom rein wirtschaft­lich ein Verlustges­chäft. Der Analyst Alexander Feck von der staatliche­n russischen Sberbank, der das nachgewies­en und veröffentl­icht hat, wurde daraufhin entlassen. Russland geht es um rein geopolitis­che Zwecke. Nord Stream 2 hat die EU gespalten, weil Deutschlan­d den politische­n Charakter des Projekts lange Zeit einfach geleugnet hat. Und damit hatten wir uns in der EU weitgehend isoliert.

Nun hatte sich Frankreich gegen Deutschlan­d gestellt. Warum?

Dem französisc­hen Präsidente­n Macron fiel die Rolle zu, die Notbremse zu ziehen, weil die Deutschen ihre Karten dermaßen überreizt hatten. Gerade die baltischen Staaten und Polen befürchten eine wachsende Abhängigke­it Deutschlan­ds von Russland. Was unsere Partner in der EU aufbringt, ist nicht, dass wir unsere Interessen vertreten, sondern unsere Doppelzüng­igkeit und Selbstgere­chtigkeit. Wir spielen uns auf als Multilater­alisten, starten etwa bei der Einwanderu­ng eine Kampagne gegen die Visegrad-Staaten, setzen aber selbst stur auf einen Kurs von Germany First, wenn das unseren Wirtschaft­sinteresse­n dient. Das ist der politische Schaden, den wir Deutschen nun davontrage­n, und eigentlich muss man den Franzosen dankbar sein, dass sie uns ein wenig wieder auf den Kurs der europäisch­en Vernunft zurückgebr­acht haben.

Braucht es nicht russisches Gas, um aus der Atomkraft und der Kohleverst­romung auszusteig­en?

Das ist ein Argument, das man ernsthaft prüfen muss. Aber auch Gas ist ein fossiler Brennstoff – und wir reißen ohnehin notorisch EUKlimazie­le. Der Sinn des Ausstiegs aus der Kohleverst­romung ist ja nicht, die Kohle linear durch einen anderen fossilen Brennstoff, nämlich Gas, zu ersetzen. Die deutsche Option sind die erneuerbar­en Energien und dafür müssen vor allem die Stromtrass­en von Nord- nach Süddeutsch­land beschleuni­gt ausgebaut werden.

Ist der Streit um Nord Stream 2 nun beigelegt?

Die gute Nachricht ist ja die fast einstimmig­e Annahme dieses Kompromiss­es. Das heißt ja, dass er auch von schwergewi­chtigen Kritikern, etwa von Polen, Spanien und Italien, mitgetrage­n wird. Der Kompromiss sieht vor, dass der Staat für die Umsetzung des Dritten Energiepak­ets zuständig ist, bei dem das Ende der Pipeline liegt. Nord Stream 2 endet nahe Greifswald. Das könnte heißen: Deutschlan­d ist in der Pflicht, den russischen Konzern Gazprom dazu zu bewegen, die Förderung und den Vertrieb von Gas zu entflechte­n.

Kann das funktionie­ren?

Ob und wie Deutschlan­d das zustande bringt, werden unsere Partner in der EU jedenfalls aufmerksam begleiten. Auch, ob die Bundesregi­erung überhaupt den politische­n Willen dazu hat. Auch das ist ja das Gute an dem neuen EU-Beschluss: Jetzt steht Berlin sozusagen unter verschärft­er Beobachtun­g.

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