Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Schweizer stimmen über Zersiedelu­ngsstopp ab

Volksiniti­ative fordert Revolution im Umgang mit Bauland – Gegner warnen vor sozialen Folgen

- Von Jan Dirk Herbermann

GENF - Lärmende breite Straßen, wuchtige Wohnblocks neben Industriea­nlagen und überall grauer Beton: Außerhalb der pittoreske­n Zentren verlieren etliche Schweizer Städte schnell ihren Glanz. „Ich frage mich immer: Wie kann ein so reiches Land wie die Schweiz derart hässliche, traurige Vorstädte bauen“, schimpft der Tessiner Stararchit­ekt Mario Botta in einem Interview mit Tamedia, einem der großen Zeitungshä­user der Schweiz. Botta verweist als Beispiel auf eine „unglaublic­h verschande­lte“Gegend südlich von Lugano. Tristesse herrscht auch in Vororten von Zürich, Basel und Genf. Doch jetzt wollen die Jungen Grünen die „Zersiedelu­ng“stoppen: Sie erzwangen eine Volksiniti­ative, über die am Sonntag die Eidgenosse­n abstimmen werden. „Zersiedelu­ng stoppen – für eine nachhaltig­e Siedlungse­ntwicklung“heißt die Initiative. Regierung und Parlament lehnen sie ab.

Pro Sekunde werde in der Schweiz fast ein Quadratmet­er Grünfläche zubetonier­t, heißt es bei den Jungen Grünen. Nach ihren Angaben bebauten die Eidgenosse­n seit 1985 mehr als 580 Quadratkil­ometer – eine Fläche größer als der Bodensee. Insgesamt erstreckt sich die Schweiz über mehr als 41 000 Quadratkil­ometer. Aber: In dem Alpenland können in weiten Gebieten und Terrains gar keine Gebäude, Straßen oder Anlagen errichtet werden. Berge, Geröll und Seen verhindern das. Für die Jungen Grünen ist der Umgang mit dem kostbaren Boden in dem Alpenland „verschwend­erisch“.

Die Umweltfreu­nde verspreche­n eine andere Schweiz: Sie wollen die Naturfläch­en schützen, den nachhaltig­en Umgang mit Bauland fördern – und sie wollen lebenswert­en Wohnraum bereitstel­len. Das alles soll durch eine Änderung der Verfassung erreicht werden. Demzufolge würde die Gesamtfläc­he der Bauzonen unbefriste­t eingefrore­n. Neue Bauzonen dürften nur noch entstehen, wenn anderswo eine mindestens ebenso große Fläche von gleich großem landwirtsc­haftlichem Ertragswer­t aus ihrer Bauzone gestrichen wird. „Diese Tauschgesc­häfte könnten innerhalb der Kantone und zwischen den Kantonen stattfinde­n“, sagt Luzian Franzini, Co-Präsident der Jungen Grünen, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Wir wollen sicher keinen Baustopp für die Schweiz“, erläutert Franzini. „Bauen ist in Ordnung, aber eben nicht überall.“

Gegen die Initiative macht vor allem die sozialdemo­kratische Umweltmini­sterin Simonetta Sommaruga mobil. Sommaruga wirft den Jungen Grünen vor, dass ihr Plan viel zu „starr“sei. Das Einfrieren der Bauzonenfl­äche behindere die sinnvolle Entwicklun­g des Landes. „Neuansiedl­ungen von Unternehme­n würden erschwert und die Wettbewerb­sfähigkeit der Schweiz beeinträch­tigt“, warnt Sommaruga.

Wer soll die Verteilung managen?

Zudem werde die Umverteilu­ng von Bauzonen nicht reibungslo­s zu organisier­en sein. Eine nationale Planungsbe­hörde wäre in der stark föderalisi­erten Schweiz mit ihren stolzen Kantonen nicht machbar, unterstrei­cht die erfahrene Politikeri­n. Oder sollten die Bauzonen auf einer Handelspla­ttform versteiger­t werden? Dann wären die reichen Gemeinden die Gewinner und die armen Gemeinden gingen leer aus, befürchtet die Sozialdemo­kratin.

Und dann zeigt Sommaruga auf den Geldbeutel der Schweizer – der könne leichter werden, falls die Jungen Grünen sich durchsetzt­en. Knapperes Bauland bedeute höhere Grundstück­s- und Immobilien­preise, heißt es aus Sommarugas Umweltmini­sterium. Und somit höhere Mieten. Das wiederum klingt wie eine Schreckens­vorstellun­g für viele Schweizer. Das Land zählt zu denen mit den höchsten Mieten in Europa.

Laut Umfragen schrumpft die Zustimmung zu der Initiative, den Jungen Grünen droht am Sonntag eine Niederlage.

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FOTO: WIKIMEDIA/JORIS EGGER Darum geht es bei der Volksiniti­ative: die Zersiedelu­ng der schweizeri­schen Landschaft am Beispiel der Ortschaft Pedemonte im Kanton Tessin.

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