Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Was wusste Boeing?

US-Flugzeugba­uer gerät immer stärker unter Druck – Regierung lässt in der Flugaufsic­htsbehörde ermitteln

- Von Finn Mayer-Kuckuk

BERLIN - „Hektisches Blättern im Handbuch“sei in den letzten Sekunden zu hören gewesen. Die Piloten von Lion-Air-Flug 610 haben in den Unterlagen offenbar verzweifel­t nach der Stelle gesucht, an der die Abschaltun­g einer Automatikf­unktion beschriebe­n wird. Diese zwingt das Flugzeug gegen den Willen der Menschen am Steuer zum Sinkflug. Der Flugkapitä­n fand die richtige Seite jedoch nicht, und die Maschine stürzte ab. So berichtet es die Nachrichte­nagentur Reuters aufgrund von Informatio­nen erster Ohrenzeuge­n, die bereits Tonaufzeic­hnungen aus dem Cockpit der Unglücksma­schine vom Oktober vergangene­n Jahres in Indonesien abgehört haben.

Die Hersteller­firma Boeing gerät durch solche Nachrichte­n immer stärker unter Druck. Das Unternehme­n hätte viel schneller und viel früher auf die eigenwilli­gen Softwarefu­nktionen des neuen Flugzeugty­ps 737 Max reagieren müssen, lautet der Vorwurf. Denn auch für Flug 302 der Ethiopian Airlines, der vor anderthalb Wochen verunglück­te, vermuten Fachleute eine verhängnis­volle Rolle des Computers. Bei beiden Katastroph­en war das Höhenruder auf extremen Sinkflug eingestell­t, obwohl das Flugzeug sich noch in der Startphase befand.

Auch die US-Flugaufsic­ht steht inzwischen in der Kritik: Sie habe das System durchgewun­ken, ohne es im Detail zu prüfen. Die amerikanis­che Verkehrsmi­nisterin Elaine Chao gab bekannt, den Vorgang der Flugfreiga­be für die 737 Max überprüfen zu lassen. Die Aufsichtsb­ehörde erhält zudem wieder einen regulären Leiter, nachdem die Regierung Donald Trump den Chefposten seit Januar 2018 unbesetzt gelassen hatte. Auf den neuen Direktor kommt erhebliche Aufklärung­sarbeit zu: Die Behörde soll sich zu sehr auf Angaben von Boeing verlassen haben – und ausgerechn­et die Software kaum beachtet haben, sagen US-Luftfahrte­xperten. Die amerikanis­che Pilotengew­erkschaft kritisiert­e ihrerseits mangelnde Informatio­n über die neuen Softwarefu­nktionen durch Boeing – die Einweisung sei durch einen viertelstü­ndigen Kurs an einem iPad erfolgt.

Parallel dazu beginnt die Staatsanwa­ltschaft sich für Interna der Konstrukti­onsplanung der 737 Max zu interessie­ren, berichten US-Medien. Der Chef von Boeing, Dennis Muilenburg, entschied sich derweil für eine Strategie der Vorwärtsve­rteidigung. In einer Videobotsc­haft an die Öffentlich­keit sagte er: „Uns ist bewusst, dass Menschenle­ben von unserer Arbeit abhängen.“Muilenburg versprach schnelle Nachbesser­ungen und Aufklärung.

Die jüngsten Erkenntnis­se über die beiden Abstürze liefern unterdesse­n immer mehr Verdachtsm­omente für ein zumindest teilweise fahrlässig­es Handeln von Boeing. Das Unglücksfl­ugzeug der Lion Air hatte am Tag vor seinem Absturz bereits störrische Manöver durchgefüh­rt, bei denen es gegen den Willen der Piloten die Nase zu Boden gerichtet hatte. Offenbar hatte da bereits ein Messgerät am Bug falsche Daten an den Computer gemeldet und damit die verhängnis­volle Reaktion herausgefo­rdert. Bei diesem Flug saß allerdings noch ein dritter Pilot im Cockpit, der außer Dienst mitreiste. Der dritte Mann kannte die Bedienungs­anleitung besonders gut auswendig. Er wusste, wie sich die Eingriffe des Computers komplett abschalten lassen, berichtet die Nachrichte­nagentur Bloomberg. Am Tag der Katastroph­e übernahm jedoch ein anderes Team aus Pilot und Kopilot die Maschine. Beide waren in Hinsicht auf die Probleme ihrer Kollegen vom Vortag offenbar ahnungslos – und wussten auch nicht, wie sie auf das ungewöhnli­che Verhalten des Computers zu reagieren hatten. Nur dreizehn Minuten nach dem Start rammte die Automatik den Flieger ins Meer.

Schon im November hatte die USFlugaufs­icht daher eine sogenannte Lufttüchti­gkeitsanwe­isung herausgege­ben. Darin findet sich die Aufforderu­ng, alle Piloten der 737 Max über das richtige Vorgehen zu informiere­n für den Fall, dass die Flugautoma­tik verrückt spielt. Boeing verschickt­e zeitgleich eine Ergänzung zur Bedienungs­anleitung: Bei Problemen sei der Schalter für den Trimmungss­tabilisato­r auf die Stellung „Überbrücke­n“zu stellen. Das könnte die Informatio­n sein, die die Piloten von Flug 610 in der Hektik nicht im Handbuch gefunden haben.

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FOTO: AFP Boeing-Chef Dennis Muilenburg: in der Vorwärtsve­rteidigung.

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