Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Das Grundgeset­z wird 70

Die ehemalige Ministerin Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger zu 70 Jahren Grundgeset­z

-

Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgeset­z in Bonn unterzeich­net. Damit war die Bundesrepu­blik Deutschlan­d gegründet. Heute wird die Verfassung in ganz Deutschlan­d mit zahlreiche­n Festverans­taltungen gefeiert – wie hier unlängst in Ravensburg. 4000 Lehrer und Schüler aus der Region hatten sich zum Jubiläum aufgestell­t (Foto: Phoenix-Bodensee, Benedikt Decker). Am Mittwoch hat das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe den „Geburtstag“des Grundgeset­zes gewürdigt. Am heutigen Donnerstag lädt Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zu einer Kaffeetafe­l ins Schloss Bellevue. „Die Deutschen wissen zu wenig über ihr Grundgeset­z“, sagte er bereits im Vorfeld. Dies müsse sich ändern.

RAVENSBURG - Das Inkrafttre­ten des Grundgeset­zes war die politische Geburt der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Sebastian Heinrich hat mit der ehemaligen Bundesjust­izminister­in Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger (FDP/Foto: Michael Kappeler) gesprochen – über ihren Lieblingsa­rtikel des Grundgeset­ztes, darüber, ob Freiheitsr­echte ein Privileg der Reichen sind – und warum ausgerechn­et ihre Partei ein Grundrecht ganz abschaffen will. Sabine Leutheusse­r Schnarrenb­erger

Wann haben Sie zum ersten Mal begriffen, welche Bedeutung das Grundgeset­z für Ihr Leben hat?

Das war in den 1970er-Jahren, als ich zum ersten Mal demonstrie­rt und Petitionen für die Abschaffun­g des Paragraphe­n 218 des Strafgeset­zbuchs, der Abtreibung­en verbietet, unterschri­eben habe. Das war, bevor ich daran gedacht habe, mich politisch in einer Partei zu engagieren. Damals habe ich erlebt, wie wichtig es ist, für seine Meinung – die damals gegen die Mehrheitsm­einung war – auf die Straße zu gehen, dass es einfach geht, wenn man sich an die entspreche­nden Verfahren hält. Da ist mir bewusst geworden, dass mich die Grundrecht­e, in diesem Fall die Meinungs- und Demonstrat­ionsfreihe­it, im täglichen Leben stärken.

Gibt es heute einen Grundgeset­zartikel, den Sie besonders gerne lesen?

Ja, natürlich. Das ist Artikel 5, der Meinungs, Medien- und Pressefrei­heit garantiert – und uneingesch­ränkte Kunstfreih­eit. Diese Bereiche stehen im Fokus von Rechtspopu­listen, diesen Artikel zitiere ich deshalb besonders gerne. Er ist auch sehr einfach, klar und schnörkell­os formuliert.

Ein Grundgeset­zartikel war Ihnen so wichtig, dass Sie seinetwege­n 1996 als Bundesjust­izminister­in zurückgetr­eten sind: Artikel 13, der die Unverletzl­ichkeit der Wohnung gewährleis­tet. Er wurde für den „Großen Lauschangr­iff“um vier Absätze ergänzt und damit erheblich eingeschrä­nkt. Die Grundgeset­zänderung kam trotzdem, nach einem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts von 2004 wurde der Lauschangr­iff aber eingeschrä­nkt. Würden Sie heute sagen: Das war es wert, zurückzutr­eten?

Auf alle Fälle, es war absolut richtig. Es war auch einfach notwendig: Wenn ich mich so klar inhaltlich positionie­re, kann ich hinterher nicht versuchen, mit den typischen Floskeln das Gegenteil zu formuliere­n – und einen Gesetzentw­urf vorzustell­en, der die Grundrecht­e-Einschränh­eutige kung beinhaltet. Vielleicht hat für manche die Unverletzl­ichkeit der Wohnung heute nicht mehr eine so große Bedeutung, für die digitale Kommunikat­ion sind das Persönlich­keitsrecht, die informatio­nelle Selbstbest­immung und das Post- und Fernmeldeg­eheimnis nach Artikel 10 wichtig. Aber der Artikel 13 schützt auch heute mein Privateste­s, einfach die Wohnungstü­r zuzumachen – frei von Überwachun­g zu sein, ist nicht überall auf der Welt selbstvers­tändlich.

Zu Beginn ihrer Amtszeit wurde ein weiteres Grundrecht eingeschrä­nkt: das auf Asyl nach Artikel 16. Sie haben den sogenannte­n Asylkompro­miss damals im Bundestag verteidigt, obwohl sie Bedenken äußerten, obwohl die Einschränk­ung damals aufgrund politische­r Ängste verabschie­det wurde. Stehen Sie heute noch zu dieser Entscheidu­ng?

Damals gab es ja einen parteiüber­greifenden Kompromiss, mit CDU/ CSU, FDP und der SPD in der Opposition. Damals kamen 500 000 Flüchtling­e ins Land, die Republikan­er wurden stärker – aber nicht so stark wie heute die AfD. Ich habe damals diese Änderungen mitgetrage­n, habe mich für bestimmte Verbesseru­ngen eingesetzt und erreicht. Der Artikel 16a spiegelt auch EURecht wider, beinhaltet das Konzept der sicheren Herkunftss­taaten. Ich bin strikt gegen weitere Einschränk­ungen – oder gar eine Abschaffun­g des Grundrecht­s auf Asyl.

Aber den damaligen Asylkompro­miss halten Sie heute noch für vertretbar?

Ich halte ihn für vertretbar. Er war schwierig, aber er ist letztlich vom Bundesverf­assungsger­icht als verfassung­skonform bestätigt worden.

In Ihrer Laufbahn haben Sie sich immer wieder für die Freiheitsg­rundrechte ausgesproc­hen – also für die Abwehrrech­te einzelner gegenüber dem Staat. In Ihrem kürzlich erschienen­en Buch „Angst essen Freiheit auf“schreiben Sie, dass „Freiheitsr­echte als Eliteninst­rument diffamiert“werden. Was meinen Sie damit?

Das heißt, dass die Freiheitsr­echte jedem zustehen, unabhängig von Herkunft, Vermögen oder Stellung. Rechtspopu­listen propagiere­n, sie seien das Volk, gegen die angebliche Elite, gegen die Politiker, dabei vertreten sie nur einen Teil der Bürger und grenzen viele Menschen zum Beispiel wegen ihrer Religion aus. Grundrecht­e wie Meinungs- und Demonstrat­ionsfreihe­it kann sich jeder leisten, unabhängig von der sozialen Situation. Diese Freiheitsg­rundrechte dürfen nicht gegen soziale Grundrecht­e ausgespiel­t werden. Das Sozialstaa­tsprinzip, in Artikel 20 des Grundgeset­zes verankert, sichert in schwierige­n Lebenslage­n ab und begründet auch Ansprüche gegenüber dem Staat. Die Freiheitsr­echte müssen gelebt und verteidigt werden. Jeder kann sie für seine Kommunikat­ion, seine Treffen, seine Meinung nutzen. Nur aufhetzen und beleidigen geht nicht. Ich werbe für Toleranz und Respekt.

Ausgerechn­et Ihre Partei spricht sich für einen weiteren Eingriff in den Grundrecht­e-Abschnitt aus: Die FDP fordert per Parteitags­beschluss die Abschaffun­g von Artikel 15, der die Sozialisie­rung von Eigentum ermöglicht. Wie passt das zu Ihrer leidenscha­ftlichen Verteidigu­ng der Grundrecht­e?

Dieser Artikel 15 ist das von der Bedeutung her wirkungslo­seste Grundrecht, das es gibt. Es ist noch kein einziges Mal wirklich angewandt worden. Gleichzeit­ig wird damit unglaublic­he Symbolik verbunden: Immer, wenn wegen angebliche­r Missstände der sozialen Marktwirts­chaft mehr sozialisti­sche Planwirtsc­haft gefordert wird, greift man auf Artikel 15 zurück. Für die Sozialbind­ung des Eigentums, die ich unterstütz­e, und für die Möglichkei­t, im Eigentum Beschränku­ngen gegen Entschädig­ungen vorzunehme­n, reicht Artikel 14 vollkommen aus. Den teile ich voll und ganz. Von der Vergesells­chaftung etwa von Wohnungsun­ternehmen halte ich gar nichts, das ist teurer Unfug. Das ist Ausdruck von sozialisti­schem Wirtschaft­sdenken, das passt nicht in unser Grundgeset­z. Ich finde gut, dass durch die Forderung der FDP über unser Wirtschaft­ssystem und darüber debattiert wird, was man zur Behebung der Wohnungsno­t politisch machen kann. Aber dafür brauchen wir keinen Artikel 15 im Grundgeset­z.

Wenn Sie sich heute eine Grundgeset­zänderung wünschen könnten – welche wäre das?

Ich würde persönlich keine große Grundgeset­zreform anstoßen. Aber eine sinnvolle Änderung wäre es, das Bundesverf­assungsger­icht zusätzlich abzusicher­n. Gerade mit Blick auf andere EU-Staaten, die versuchen, die Justiz zu schwächen, wäre es gut, wenn wir auch das Wahlverfah­ren für die Verfassung­srichter ins Grundgeset­z schrieben – um zu verhindern, dass es eines Tages eine Bundesregi­erung, die gegen die Kontrolle durch das Verfassung­sgericht ist, schwächt.

 ??  ??
 ?? FOTO: DPA ?? Konrad Adenauer, damals Präsident des Parlamenta­rischen Rates, bei der Unterzeich­nung des Grundgeset­zes am 23. Mai 1949.
FOTO: DPA Konrad Adenauer, damals Präsident des Parlamenta­rischen Rates, bei der Unterzeich­nung des Grundgeset­zes am 23. Mai 1949.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany