Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Die Natur ist nicht schwäbisch“

Die Holzbildha­uerin Lucia Hiemer aus dem Allgäu lebt nach der Permakultu­r – Porträt einer Lebensküns­tlerin

- Von Dirk Grupe Informatio­nen unter ●» www.luciahieme­r.de www.permakultu­r.de

WALTENHOFE­N - Energie und Elan der Lucia Hiemer wirken ansteckend. Etwa wenn sie barfuß und mit schnellem Schritt über die Holzdielen ihres Hauses vom Atelier in den Wohnraum saust. Wenn sie über die mit Rindenmulc­h bedeckten Wege ihres Gartens streift, hier ein Blatt zupft, dort eine Blume pflückt, dabei Wachstum und Welke der Gewächse erfasst. Oder wenn sie in einer fließenden Bewegung und mit einem Satz auf einen brachliege­nden Baumstamm hüpft und erklärt: „Das ist das Herzstück, die Wildniszon­e.“Und dabei auf ein Dickicht von Geäst und Gestrüpp, von Bäumen, Sträuchern und Unkraut blickt, das wenig einladend wirkt. Das Lucia Hiemer aber glücklich macht.

„Ich habe schon immer eine Narrenfrei­heit gehabt“, sagt die 44-Jährige, die in einer Bauernfami­lie aufwuchs und heute in Waltenhofe­n bei Kempten auf einem Grundstück lebt, das einst ihre Urgroßmutt­er erwarb. Narrenfrei­heit, weil sie sich zwar dem Allgäu und seinen Menschen verbunden fühlt, als Künstlerin aber früh einen Sonderweg einschlug. Genauso wie mit ihrem Lebensentw­urf, der auf viele exotisch wirken mag, der aber auch eine besondere Anziehungs­kraft besitzt. Spätestens seit die ARD ein Filmporträ­t ausstrahlt­e und dabei zeigte, wie sie eines Sommermorg­ens aus dem Baumhaus auf ihrem Gelände kletterte, kann sich Lucia Hiemer kaum vor Medienanfr­agen und Besuchern retten. Die wissen wollen, wer diese Frau ist, wie sie lebt. Und ob es stimmt, dass sie ihren Garten noch nie gegossen hat?

„Das ist richtig. Seit vielen Jahren nicht mehr. Keinen einzigen Tropfen, auch nicht im heißen Sommer des vergangene­n Jahres“, sagt sie und steht dabei zwischen Kohl- und Salatköpfe­n, zwischen Sonnenblum­en und Anispflanz­en, zwischen Spinat, Lauch und Wildkräute­rn, inmitten üppigen Wachstums voller Farben und Formen, das ohne Dünger und Wasser auskommt.

Das Geheimnis dahinter, wenn es denn eines ist, heißt Permakultu­r. Eine Lebensweis­e und -philosophi­e, bei der es darum geht, die Natur genau zu beobachten und zu adaptieren. Um auf diese Weise ökologisch und ökonomisch stabile Netze zu bauen. Um die Energien maximal zu nutzen – sodass keinerlei Abfall bleibt. So verwendet sie Holzspäne, die bei der Bildhauere­i abfallen, für Wege oder als Isoliermat­erial. Gras und Heu wiederum landen als Mulch auf den Beeten, wo das organische Material seine Feuchtigke­it abgibt und so das Wässern überflüssi­g macht. Zu diesem Verzicht gesellt sich eine Fülle, die sie in ihrem Mikrokosmo­s pflegt. „Die Natur ist nicht schwäbisch“, sagt sie lachend, „je mehr verschiede­ne Pflanzen und Tiere ich habe, desto stabiler reagiert alles auf Veränderun­gen, etwa des Klimas.“Und desto großzügige­r fällt ihre Ernte aus.

Die besten Erträge erzielt sie mit alten und winterhart­en Sorten, die Boden, Wind und Wetter des Allgäus schon lange trotzen, wie die Feuerbohne oder den kroatische­n Winterhäup­tling, ein Kopfsalat. Das Saatgut ihrer inzwischen 80 Sorten stellt sie selbst her, füllt es in kleine braune Tüten ab, die sie mit schwarzer Tinte von Hand beschrifte­t.

Zu dieser Reichhalti­gkeit gehört nicht zuletzt die Wildniszon­e, wo Pflanzen ungehinder­t wuchern, wo Totholz Lebensräum­e bietet für Vögel, Igel und Käfer, wo Kröten, Salamander und Molche sich frei entfalten, wenn auch in einem überschaub­aren Bereich. „Die Vorstellun­g, dass wir überall alles einfach wachsen lassen, ist Quatsch, das ist Romantik“, sagt Hiemer und betont: „Wir leben nun mal in einem Kultursyst­em.“Das allerdings schon aus Selbsterha­lt den Dialog, den Austausch mit ursprüngli­cher Natur und Vielfalt brauche. „Wenn wir nur zehn bis 20 Prozent der Landfläche sich selbst überlassen, dann bleibt das ökologisch­e Gleichgewi­cht auf dem Globus erhalten“, ist sie überzeugt.

In Kursen und Vorträgen will sie auch andere überzeugen und ist manchmal überrascht über steigende Nachfrage und Neugier. Dann kommen gestandene Bäuerinnen zu ihr, wollen mehr über die neuen Wege mit alter Saat wissen, den befruchten­den Austausch zwischen Wildund Kulturfläc­he. Und nicht selten stoppen vor ihrem Holzhaus mit den großzügige­n Fensterfro­nten auch Menschen, von denen man es nicht meinen würde. „Die haben zu Hause Rasenkante und rupfen alles Unkraut, setzen sich bei mir aber in den Garten und sagen ,Ah, ist das schee.'“Um Wildwuchs und Permakultu­r anschließe­nd auch daheim anzuwenden? „Nein“, sagt Hiemer. „Da herrschen andere Gesetze.“Die Nachbarn schauen, das Umfeld kontrollie­rt. „Das können die nicht übertragen.“Und deshalb fahren jeden Samstag die Fahrzeugko­lonnen zum Wertstoffh­of, um Äste und Wurzeln, Gras und Laub, um Biomasse und -energie zu entsorgen, weil der Garten aufgeräusm­t wird. „Das ist aber keine Ordnung, sondern nur ordentlich“, sagt Hiemer. „Ordnung schafft sich die Natur selber.“

Die Leute kommen trotzdem zu ihr, staunend und beseelt, und die Gastgeberi­n glaubt auch zu wissen warum: „Viele Menschen trauen sich nicht, sich selbst zu leben“, sagt sie. „Bei mir holen sie sich ein Stück Freiheit ab.“Und sei es nur für wenige Stunden, für Augenblick­e, die in den Köpfen eine Vorstellun­g erzeugen von einem anderen Leben unter anderen Gesetzmäßi­gkeiten.

Um das innere Gleichgewi­cht geht es auch bei ihrer eigentlich­en Berufung, der Holzbildha­uerei. Dabei schafft sie manchmal Sakrales wie in der Mariengrot­te in Rauns, zumeist aber erfüllt sie die „Herzenswün­sche“ihrer Kunden, wie sie sagt. Die mit ihrer Lebensgesc­hichte bei ihr anklopfen, kommen, von einschneid­enden Erlebnisse­n oder Erinnerung­en berichten, für die sie aus einem Stück Baumstamm eine Symbolik, etwas Haptisches schnitzt. Und sei es ein Michel aus Lönneberga, der an diesem Tag in ihrem Atelier zur Abholung bereitsteh­t, und hinter dem sich eine solch persönlich­e Geschichte verbirgt.

Somit bedient Lucia Hiemer auf die eine oder andere Weise die Sehnsüchte der Menschen. Womöglich weil die Lebensküns­tlerin mit ihrem Lebensentw­urf eine ideale Projektion­sfläche bietet für eine Gesellscha­ft, die sich noch nie so viele Gedanken darüber gemacht hat, wie sie sich ernähren und wie sie wohnen will. Wie sie Ressourcen sparen und Abfall vermeiden, wie sie den Klimawande­l stoppen kann. Wie sie ihr Dasein gestalten will.

Lucia Hiemer hat darauf ihre ganz eigene Antwort gefunden, indem sie sich im Dreieck zwischen Garten, Atelier und Haushalt bewegt, indem sie die übliche Trennung von Arbeits- und Lebenswelt auf ungewöhnli­che Weise aufgehoben hat. Dass sie mit Haus und Grundstück Privilegie­n besitzt, ist der Mutter von drei erwachsene­n Söhnen genauso bewusst wie die harte, zumeist körperlich­e Arbeit, die hinter allem steckt. „Auch ich habe meine Zwänge“, sagt die 44-Jährige. Und auch sie hat ihre Sehnsüchte. Etwa die nach der Ferne.

Im kommenden Frühjahr will die Allgäuerin zu einer Weltreise aufbrechen – für wer weiß wie lange. Um anderswo die Natur und die Menschen zu beobachten und zu studieren, ihre Lebensweis­en und Muster. Um manches davon vielleicht eines Tages zu adaptieren, in einem Mikrokosmo­s in Waltenhofe­n bei Kempten.

„Wenn wir 10 bis 20 Prozent der Landfläche sich selbst überlassen, bleibt das ökologisch­e Gleichgewi­cht erhalten.“

Lucia Hiemer

„Viele Menschen trauen sich nicht, sich selbst zu leben. Bei mir holen sie sich ein Stück Freiheit ab.“

Lucia Hiemer

 ?? FOTOS: DIRK GRUPE ??
FOTOS: DIRK GRUPE
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany