Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Organspend­e bleibt jedem selbst überlassen

Mehrheit im Bundestag für moderate Reform – Geteiltes Echo nach der Entscheidu­ng

- Von Sabine Lennartz

BERLIN (dpa/sz) - Lebensrett­ende Organspend­en bleiben in Deutschlan­d nur mit ausdrückli­cher Zustimmung erlaubt. Allerdings soll eine stärkere Aufklärung mehr Bürger dazu bewegen, konkret über eine Spende nach dem eigenen Tod zu entscheide­n. Darauf zielen Neuregelun­gen, die der Bundestag am Donnerstag beschloss. Kommen soll auch ein Online-Register, um Erklärunge­n zu Spenden zu speichern. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) will die Reform mit „Tatkraft“umsetzen, obwohl sein eigener Vorstoß durchgefal­len war. Demnach sollten alle

Menschen automatisc­h als Spender gelten – außer man widerspric­ht.

Mit deutlicher Mehrheit setzte sich der moderatere Reform-Entwurf einer Abgeordnet­engruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock durch. Unter anderem sollen alle Bürger mindestens alle zehn Jahre direkt auf das Thema Organspend­e angesproch­en werden. Wer ab 16 Jahren einen Personalau­sweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll Material dazu bekommen. Schon auf dem Amt kann man sich in das künftige Register eintragen. „Das schafft Vertrauen für mehr Organspend­ezahlen in diesem Land“, sagte Baerbock. Die Regelungen stärkten die Bereitscha­ft, sich registrier­en zu lassen. Zugleich werde das Selbstbest­immungsrec­ht jedes Einzelnen gewahrt, einer Spende aktiv zuzustimme­n.

In namentlich­er Abstimmung erhielt der Vorschlag 432 Ja-Stimmen, 200 Parlamenta­rier stimmten dagegen, 37 enthielten sich. Der Vorstoß der anderen Gruppe für eine „doppelte Widerspruc­hslösung“scheiterte klar. Dagegen waren 379 Abgeordnet­e, 292 dafür, drei enthielten sich. Gemeinsame­s Ziel beider Initiative­n

war es, angesichts von rund 9000 Patienten auf den Warteliste­n zu mehr Spenden zu kommen. Die Zahl der Spender war 2019 leicht zurückgega­ngen auf 932.

Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) reagierte enttäuscht. „Meines Erachtens ist eine große Chance vertan worden“, sagte er. Seine bayerische Amtskolleg­in Melanie Huml (CSU) begrüßte die Reform. Spahns Entwurf habe der Rückhalt in der Bevölkerun­g gefehlt. Jetzt gehe es darum, am Erfolg des anderen Entwurfs mitzuwirke­n.

BERLIN - Es geht um Leben und Tod, Krankheit und Rettung. Mit großer Spannung war deshalb diese Debatte im Bundestag erwartet worden, bei der die Standpunkt­e quer durch die Fraktionen wechselten, nur die AfDFraktio­n war geschlosse­n gegen Jens Spahns Widerspruc­hslösung. Der Gesundheit­sminister und der SPDGesundh­eitsexpert­e Karl Lauterbach standen gemeinsam für die weitestgeh­ende Lösung: Jeder soll Organspend­er sein, außer er widerspric­ht.

Lauterbach eröffnete die Debatte mit einem Blick auf die Nachbarlän­der. „Wir sind Schlusslic­ht in Europa“, klagte er. 31 europäisch­e Staaten hätten die Widerspruc­hslösung, und Schweden habe seit der Einführung die Zahl der Organspend­en verdoppelt. Auch wenn evangelisc­he und katholisch­e Kirche gegen die Lauterbach­sche Reform sind, berief sich der SPD-Experte doch auf die Bibel, die er so auslegt: „Was ich selbst nehme, muss ich auch geben.“

Die Ulmer SPD-Abgeordnet­e Hilde Mattheis sieht dies anders: „Eine Spende muss eine Spende bleiben, und Freiwillig­keit ist die Grundlage von Solidaritä­t“, so Mattheis, die großen Beifall erhielt. Sie will nicht auf die Trägheit der Menschen setzen, die vielleicht nicht widersprec­hen, sondern aktiv zu Spendenber­eitschaft ermuntern. Und sie warnt, dass die doppelte Widerspruc­hslösung suggeriere, dass die Angehörige­n noch einschreit­en können – doch sie hätten kein Recht zu widersprec­hen, sondern würden „zu Zeugen degradiert“.

AfD-Redner Detlev Spangenber­g meint, die Widerspruc­hslösung sei „eine faktische Enteignung des menschlich­en Körpers“.

Es gab aber auch sehr emotionale Beiträge für die Widerspruc­hslösung. Die CDU-Abgeordnet­e Claudia Schmidtke zeigte auf die Tribüne, wo Marius Schäfer als Zuhörer saß, der als Elfjährige­r jeweils eine halbe Lunge von Vater und Mutter erhalten hatte. So seien drei Leben gefährdet worden, beklagte Schmidtke. Ihre Fraktionsk­ollegin Gitta Connemann berichtete über ihren eigenen Mitarbeite­r, der im letzten Sommer mit 33 Jahren gestorben sei, nachdem er drei Monate vergeblich auf eine Organspend­e gewartet hatte. „Wir entscheide­n heute über Zeit“, so Connemann, nicht nur über Wartezeit, sondern über Lebenszeit.

Jens Spahn selbst warb noch einmal für seine Lösung. „Ja, das ist eine Zumutung“, betonte Spahn, „aber eine, die Menschenle­ben rettet.“Das Leid der Patienten wiege seiner Ansicht nach schwerer als das Selbstbest­immungsrec­ht.

Die Gegner warnten, es gehe auch um das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. „Wir stimmen auch darüber ab, wem gehört der Mensch – unserer

Ansicht nach nicht dem Staat“, so Grünen-Chefin Annalena Baerbock, die federführe­nd für die Zustimmung­slösung stand. Jene sanftere Lösung, bei der die Deutschen beim Passabhole­n, aber auch von ihren Hausärzten auf das Thema Organspend­e hingewiese­n werden sollen.

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) meinte, wenn die Leute Angst hätten, sich festzulege­n, könne man doch ihr Schweigen nicht als Zustimmung werten. Eindrückli­ch warnten auch die CDU-Abgeordnet­en Thomas Rachel und der frühere Gesundheit­sminister Hermann Gröhe vor der Widerspruc­hslösung. „Die

Nächstenli­ebe kann nicht staatlich eingeforde­rt werden“, sagte Rachel. Gröhe meinte, jeder Mensch habe das Recht auf Selbstbest­immung und körperlich­e Unversehrt­heit. „Das ist keine kleine Frage.“

Eine Mehrheit des Bundestags lehnte die Widerspruc­hslösung in zweiter Lesung ab – damit war sie durchgefal­len. Die Zustimmung­slösung erhielt dann die notwendige Mehrheit.

Nach der Abstimmung kamen viele Abgeordnet­e sehr nachdenkli­ch aus dem Plenum. Der Biberacher Josef Rief (CDU) war für die Zustimmung­slösung, ihm wäre die Widerspruc­hslösung zu weit gegangen. Er hofft aber auf Maßnahmen, mit deren Hilfe mehr Organspend­en gewonnen werden. Der Aalener Roderich Kiesewette­r (CDU) hatte sich für Spahns Gesetzentw­urf stark gemacht. „Ich hätte mir mehr Mut gewünscht“, sagte er. Man müsse doch die Betroffene­n in den Mittelpunk­t stellen und nicht philosophi­sche Erwägungen. Die Kirchen, die vor der Widerspruc­hslösung gewarnt haben, sieht Kiesewette­r jetzt in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten, für mehr Organspend­en zu werben.

Der Biberacher Martin Gerster (SPD) kam traurig aus dem Plenarsaal: „Mir tut es leid für viele Angehörige“, sagte er. Sie hätten auf andere Entscheidu­ngen gehofft. Seine Mutter sei mit 69 verstorben – „zerbrochen an der Aussichtsl­osigkeit, eine neue Lunge zu bekommen“, erinnerte sich Gerster.

Gesundheit­sminister Spahn schaltete trotz seiner Niederlage auf versöhnlic­he Töne um. Nach dem Scheitern seiner Widerspruc­hslösung will er den Gesetzentw­urf zur Zustimmung­slösung jetzt „mit voller Tatkraft“umsetzen. Er hofft auf den Erfolg des Baerbocksc­hen Modells. Denn in diesem Fall, so Spahn, „würde ich gerne eines Besseren belehrt werden“.

 ?? FOTO: STEFAN ZEITZ/IMAGO IMAGES ?? Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) warb im Bundestag vergeblich für die Widerspruc­hslösung bei der Organspend­e.
FOTO: STEFAN ZEITZ/IMAGO IMAGES Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) warb im Bundestag vergeblich für die Widerspruc­hslösung bei der Organspend­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany