Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Weniger Schnee, mehr Stürze
Der milde Winter sorgt in den Bergen für schlechte Pistenverhältnisse – Dadurch kommt es vermehrt zu schweren Verletzungen
BALDERSCHWANG - Plötzlich ein gewaltiger Schlag. Erschreckt drehen sich die wartenden Skifahrer an der Talstation eines Sessellifts im Oberallgäuer Wintersportort Balderschwang um. „Oh Gott, was ist jetzt los“, erschallt ein Ruf aus der Menge. Dann ist zuerst ein Wirrwarr aus Skiern und Absperrzaun zu sehen. Worauf der Blick auf einen stöhnenden jungen Burschen fällt. Er liegt eingeklemmt unter einem Ticketautomaten. Womöglich hat er sich den Oberschenkel gebrochen. Wie konnte es dazu kommen? Der Skifahrer kam wohl rasant den Hang herunter und wollte am Zaun abschwingen. Die ausgedehnte Eisplatte hat er dabei offensichtlich übersehen und ist weggerutscht.
Damit gehört der Bursche zur immer länger werdenden Reihe jener Wintersportler, die gegenwärtig Opfer heikler Pistenverhältnisse werden. Gemeint sind damit vereiste, knüppelharte Abfahrten – also Umstände, wie sie eigentlich kein Skifahrer besonders schätzt. Die Verantwortlichen der Bergbahnen natürlich ebenso wenig, miese Pisten sind geschäftsschädigend. Für den bisher weitgehend schneearmen Winter in vielen nordalpinen Regionen können die Wintersportorte jedoch nichts. Ein Traum aus Pulverschnee lässt sich nicht herbeizaubern. Selbst Beschneiungsanlagen sind da keine große Hilfe. Gegenwärtig lassen sich durch ihren Betrieb oft nur die braunen, abgefahrenen Flecken auf den Pisten kaschieren. Aber Kunstschnee ist schon grundsätzlich hart. Knallt tagsüber die Sonne drauf, schmilzt er an. Über Nacht gefriert alles. Am nächsten Tag finden die Skifahrer dann Eisplatten vor – mit den entsprechenden Gefahren.
Dass diese nicht herbeigeredet sind, zeigt nicht nur der Zwischenfall in Balderschwang, bei dem man dieser Tage zufälligerweise Zeuge geworden ist. Aussagen von Bergwacht, weiteren Rettungsdiensten und Ärzten oder örtlichem Skigebietspersonal unterstreichen die Entwicklung. So erwähnt ein Mitarbeiter der betroffenen Balderschwanger Sesselbahn: Mit Unfällen sei „es gegenwärtig schon etwas happiger als sonst“. Eine ähnliche Tendenz meldet der Klinikverbund Allgäu. Wer auf den Pisten der dortigen Skigebiete schwerer verunglückt, landet üblicherweise in den Notaufnahmen Immenstadt oder Kempten. Eine spezifische Auswertung der Fälle gibt es momentan aber offenbar nicht. Christine Hartke, Sprecherin des Klinikverbunds, meint nur, die Zahl der Skiunfälle sei „noch nicht besorgniserregend hoch“.
Auch die Bergwacht im Allgäu gibt sich erst einmal gelassen. Die Alarmierungen in dieser Saison seien auf einem ähnlichen Niveau wie vor einem Jahr. Es fehle jedoch ein exakter Überblick über die unterschiedliche Art der Einsätze. Klar ist nur, dass Lawinen momentan im Gegensatz zur schneereichen Saison 2018/2019 eine untergeordnete Rolle spielen. Zu vermuten ist deshalb ein vermehrter Pisteneinsatz, um auf die Vorjahreszahlen zu kommen. Was tatsächlich los ist, möchte die Bergwacht erst am Saisonende sagen, wenn die Statistik erstellt wird.
Von Seiten der Retter kommt aber ein entscheidender Hinweis, wie komplex sich das Problem mit Verletzten und schlechten Pistenverhältnissen entwickelt. So wird kolportiert, dass die Unfallstatistik von der Zahl der Wintersportler und der Möglichkeit des Skifahrens abhängt. Ein logischer Zusammenhang. Dazu melden Touristiker aus dem Allgäu, dass es seit dem Saisonauftakt weniger Wintersportler in die spärlich weiße Landschaft getrieben habe. Zugleich seien weniger Pistenkilometer zu befahren gewesen als sonst üblich. Mit anderen Worten: Weniger Skifahrer haben auf weniger Abfahrten mindestens so viele Unfälle gehabt wie in guten Wintern – laut Klinikverbund Allgäu sogar mehr.
Brüche und Schädelverletzungen
Deutlichere Aussagen zu diesem Sachverhalt gibt es aus dem benachbarten Vorarlberg, das zugleich wesentlich mehr Pistenkilometer vorzuweisen hat als das Allgäu. Zentrale Versorgungsstelle für verunfallte Skifahrer ist dort das Landeskrankenhaus Feldkirch. „Da es so wenig Schnee gibt, vermute ich, dass die einheimischen Skifahrer noch auf den großen Schnee warten, weil wir eher weniger einheimische Skifahrer behandeln“, sagt René El Attal, Leiter der Schwerpunktabteilung Unfallchirurgie. Also ist die Zahl der Skifahrer auch hier eingeschränkt, während die Verunglückten bisher tendenziell Urlauber sind, die ihre Skiferien bereits länger gebucht hatten – und damit jene, die nach ihrer Anreise eben auf die Piste wollen.
Wie El Attal ergänzt, beutelt es dieses Klientel dann auch besonders. Wegen der vielfach schlechten Pistenverhältnisse seien „die Verletzungen leider schwerer“. Klar ist: Wer auf Eis stürzt, knallt auf einen Boden wie Beton. Nach Aussage von El Attal werden „zahlreiche Unterschenkeloder Unterarmfrakturen oder stumpfe Schädel-Hirn-Traumen“behandelt. Die Zahlen seien im Vergleich zum Vorjahr auch erhöht. Eine Reportage in den „Vorarlberger Nachrichten“von Anfang Januar zeigt, was sich in der Ambulanz abspielt. Notgedrungen Reihenabfertigung, fast schon Fließbandarbeit. Ein behandelnder Arzt wird folgendermaßen zitiert: „Die Kollegen und ich sind durchgehend beschäftigt.“
Wirft man einen Blick nach Tirol, in die Regionen östlich des Arlbergs, sieht es dort kaum anders aus. Das Gros der Pisten von Kitzbühel, Zell am See, Ischgl und so weiter ist zwar verhältnismäßig hochgelegen, hat also etwas mehr Naturschnee abbekommen als die Allgäuer Gebiete oder der Bregenzerwald. Dennoch heißt es auch von dort: hart, vereist, kritisch. Tiroler Medien haben registriert, dass „die Zahl der Skiunfälle heuer besonders hoch“sei. In einem Radiointerview betont etwa Hermann Spiegl, Leiter der Tiroler Bergrettung: „Es ist ein Winter mit wenig Schnee. Und bei wenig Schnee und harten Pisten sind die Unfälle einfach mehr“, thematisiert er eine alte Erfahrung.
Veteranen des weißen Sports mögen sich nun an ihre Anfänge erinnern. Damals hieß es von den Skilehrern,
ein guter Skifahrer müsse bei allen Verhältnissen sicher fahren können. Wohlfeile Worte. Gleichzeitig haben nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern ebenso Forschungen ergeben, dass Bodenverhältnisse eine große Bedeutung bei Unfällen spielen. So gibt es etwa Zahlen des österreichischen Kuratoriums für Verkehrssicherheit. Demnach spielt bei einem Drittel der Gestürzten die Bodenbeschaffenheit eine Rolle. Knapp die Hälfte davon war mit hartem Schnee überfordert, 42 Prozent kam mit Eis nicht zurecht.
Der Rest scheiterte an Unebenheiten der Piste. Als problematisch gilt es auch, wenn Skifahrer keinen Platz für Ausweichmanöver haben. Da gegenwärtig manche Piste nur ein schmales Kunstschneeband ist, verschärft sich die Situation. Das bedeutet aber nicht, dass Skifahren nun zum Kamikaze-Sport verkommen ist. In Österreich vergisst der nationale Tourismusverband nie zu erwähnen, wie wenige Unfälle nach seiner Ansicht passierten. Keiner soll verschreckt werden. So liege die Zahl der Verletzten im Lande seit Längerem im jährlichen Schnitt bei 30 000 Menschen, teilt der Verband mit. Die Schlussfolgerung: Eine kleine Zahl im Vergleich zu den Millionen Wintersportlern.
Dass schlechte Pistenverhältnisse bei den Unfallzahlen für Ausschläge nach oben sorgen können, ist nicht neu. Die Wintersaison 2016/2017 startete ähnlich bescheiden. Seinerzeit ging selbst die eher global und ökonomisch orientierte „Neue Zürcher Zeitung“der Frage nach, wie sehr harte Pisten die Verletzungsgefahr steigern. Die Antwort: sehr. Ihren Lesern gab das Blatt daraufhin den lapidaren Rat, doch bitte die Fahrweise den Schneeverhältnissen anzupassen. Ebenso simpel ist übrigens ein Tipp von Thomas Frey, Alpin-Experte des bayerischen BUND: „Man sollte darauf achten, dass man dann Ski fährt, wenn auch Schnee liegt.“Naturschnee meint er. Der sei auch ökologischer, sagte Frey bereits vor Weihnachten.
Andererseits wird aber in Wintersportkreisen diskutiert, ob harte Pisten bei spärlicher Schneelage wirklich so ein Problem sind, wie es angenommen wird. Dies hat damit zu tun, dass im heutigen Massenskibetrieb mancher schon bei kleinen Schneehaufen auf der Piste überfordert ist – also jenen Aufschüttungen, die im weichen Schnee durch Schwünge mit den Skiern entstehen. Eine solche Herausforderung gebe es „bei einer gut präparierten und durchgehärteten Piste nicht“, so Jörn Homburg, Marketingleiter der Bergbahnen Oberstdorf/Kleinwalsertal. Wenn harte Pisten griffig sind, können sie seiner Ansicht nach sicherer sein als Abfahrten mit Schneeverwerfungen. Ob aber doch irgendwann einmal in Oberstdorf eine Abfahrt „wegen Vereisung und aperen Stellen“zum Schutz der Gäste geschlossen werde, sei eine Entscheidung „von Fall zu Fall“. Ein Blick auf die Webseite der Bergbahnen Oberstdorf/Kleinwalsertal zeigt: Von 130 Pistenkilometern sind gegenwärtig 22 Kilometer nicht offen.
Im nahen Balderschwang wurden die Sonnenhänge beim Riedberger Horn ausgenommen. Ansonsten herrscht Betrieb auf den Pisten. Nicht viel, denn gegenwärtig sind nirgends Schulferien. Mit scharf geschliffenen Skikanten kommt man eigentlich auch gut auf den Pisten zurecht – bis es dann doch auf einer Eisfläche rutschig wird. Der Sturz bleibt aber aus. Das heißt, nach Pistenschluss reicht es noch für einen Jagertee vor der Heimfahrt. So viel Glück hatte der Skifahrer, der in die Absperrung der Talstation gekracht ist, leider nicht. Er musste per Hubschrauber ins Krankenhaus transportiert werden.