Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Himmlisches Wanderrevier schwarz wie die Hölle
Die Kanareninsel El Hierro wirkt klein und unscheinbar, entpuppt sich aber schnell als wahres Juwel
Diese Geschichte beginnt anders, als es Reisereportagen üblicherweise tun. Denn sie zählt nicht auf, was eine Destination alles hat, sondern, was alles fehlt auf El Hierro: lange Sandstrände, Shoppingmalls, malerische Fischerdörfer und große Hotelanlagen, Autobahnen, Kinos und Vergnügungsparks, internationale Flugverbindungen, Golfplätze und Biermeilen. Genau das, was es nicht gibt, macht die kleinste der Kanarischen Inseln, die flächenmäßig gerade mal so groß ist wie Dortmund und weniger Straßen hat als der New Yorker Central Park, völlig unbrauchbar für den Massentourismus. Und das ist gut so, vor allem für Wanderer.
Es mag purer Zufall sein, doch es passt zu schön, um unerwähnt zu bleiben: Die Form El Hierros erinnert an einen etwas nach rechts gekippten Wanderstiefel. Na, wenn das kein Omen ist!
So beginnt der erste Tag auf der südwestlichsten Insel der Kanaren weit draußen im Atlantischen Ozean dann auch mit einer Küstenwanderung im fruchtbaren Tal von El Golfo. Wobei das Wort „Wanderung“etwas übertrieben scheint. Ist es doch eher ein gemütlicher Spaziergang ohne erwähnenswerte Höhenmeter, der vom Punta Grande auf aufwendig gebauten Holzdohlenwegen entlang der windumtosten Steilküste Richtung Stiefelspitze im Westen führt. Zum Angewöhnen und Einlaufen ist dieser Weg genau das Richtige. Zudem vermittelt er gleich einen guten Eindruck von der Charakteristik der gesamten Insel. Von den 100 Kilometern Küstenlinie fallen tatsächlich 90 Prozent fast senkrecht zum Meer ab. Die Erde rechts und links der Holzdohlen ist schwarz wie die Hölle, besteht dieses himmlische Eiland doch aus Vulkangestein.
Dass sich das El-Golfo-Tal an der Nordküste trotzdem recht grün präsentiert, liegt an seiner geschützten Lage und den fruchtbaren Lavaböden. Auf ihnen bauen die Herreños Wein, vor allem aber köstliche Bananen, Ananas, Papayas und Mangos an, die allerdings nur auf den Kanaren selbst, höchstens noch auf dem spanischen Festland, verkauft werden. Von den rund 20 000 Touristen, die die Insel im Jahr besuchen und diese Köstlichkeiten vor Ort probieren können, können die rund 10 000 Einwohner nämlich nicht leben.
Wanderer stellen schnell fest, wie dünn besiedelt der Inselwesten oder die Gegend rund um El Hierros höchsten Berg Malpaso (1501 Meter) ist, und wie gut die regionalen Produkte munden. Beim mitgebrachten Picknick gibt es lokalen Wein aus den vulkanischen Hanglagen, inseleigenen Käse, frisches Gemüse und aromatische Früchte, wie man sie eigentlich nur aus den Tropen kennt.
Auf den Spuren der Pilger
Unterwegs treffen die Wanderer kaum andere Touristen. Dafür Pilger auf dem Weg zur Wallfahrtskapelle Virgen de los Reyes, wo die Jungfrau der Könige zu Hause ist. Die Statue der Inselschutzheiligen wird alle vier Jahre mit Musik und Tanz in einer großen Prozession über die Gipfel der gesamten Insel getragen. Auf den Spuren dieser Prozession ist der über 26 Kilometer lange Wanderweg Camino de la Virgen entstanden, auf den Wanderer beinahe zwangsläufig immer wieder stoßen.
Es liegt nicht nur am Nebel, der sich wie eine flauschige Decke über den Hain von El Sabinar im Inselwesten legt, dass sich der Wanderer hier verloren vorkommt – außer ihm ist tatsächlich keiner da! Vom Wind grausam verkrümmte Wacholderbäume krallen sich am Lavaboden fest und biegen ihre Kronen, gerade so, als wollten sie im Schoß der Erde Schutz suchen. Manche von ihnen bilden Alleen entlang der Pfade, tunnelgleich. Nur wer farbenprächtige Outdoor-Kleidung trägt, sticht heute heraus. Wer nicht, wird vom Grau verschluckt. Wenige hundert Meter weiter aber öffnen sich Allee und Gelände plötzlich, das dichte Nebelkleid bekommt Risse, gestattet immer wieder kurze Blicke auf das tief unten liegende blaue Meer oder zum Leuchtturm von Orchilla, dem südwestlichsten Punkt Europas. Von hier aus, „dem letzten sichtbaren Zeichen der europäischen Welt“, ist Kolumbus einst zu seiner zweiten Amerikareise gestartet.
Der Wanderer wähnt sich hier aber nicht unbedingt in Europa, zu dem die Kanaren politisch gehören, sondern vielmehr auf einem fernen Märchenplaneten, in dem eine Fee Wacholder- und Wolfsmilchgewächse, Fichten und Lorbeerbäume, Vulkangestein und Sandpisten in ein Zauberland verwandelt hat. Ein bisschen Feenstaub hier, ein bisschen Hokuspokus dort, schon sehen blattlose Baumkronen aus wie riesige Hirschgeweihe, verwandeln sich alte Stämmen in runzlige Gesichter, machen winzige Blüten aus schwarzem Gestein
farbenprächtige Teppiche. Material in Hülle und Fülle fürs fantasievolle Kopfkino.
Es muss der pure Neid aus den Bewohnern der Nachbarinseln sprechen, wenn sie El Hierro wenig taktvoll als „Arsch des Archipels“bezeichnen. Denn diese Rückseite ist mehr als reizvoll. Bei mystischem Nebelwetter im Hain von El Sabinbar genauso wie bei herrlichem Sonnenschein auf den Hochebenen im Süden oder Landesinneren. Schon vor 20 Jahren hat die Unesco die Einzigartigkeit El Hierros erkannt und die Insel zum Biosphärenreservat und Geopark geadelt. Dieses Prädikat vermarkten die Herrenos mit drei Fernwanderwegen sowie rund 30 kleineren Pfaden, die allesamt gut ausgeschildert sind und zu vielen Aussichtspunkten des Eilandes führen. Einer der schönsten ist der Mirador de la Peña im Osten. Hier hat César Manrique ein Restaurant in den Fels gebaut, eines der letzten Werke des 1992 gestorbenen Künstlers aus Lanzarote. Das Lokal La Peña kann stellvertretend für ganz El Hierro stehen: Von außen wirkt es unscheinbar, ist fast nicht zu erkennen. Bei näherer Betrachtung allerdings offenbart sich ein wahres Juwel mit grandiosen Aussichten.
Weitere Informationen beim Spanischen Fremdenverkehrsamt, E-Mail: frankfurt@tourspain.es, Internet: www.spain.info/de
Die Recherche wurde unterstützt von Wikinger Reisen. Der Veranstalter bietet unterschiedliche Wanderreisen auf El Hierro an (www.wikinger-reisen.de).
Auch das Gartenlokal Volcán del Hierro liegt im Tal von El Golfo. Serviert werden dort ausgezeichnete lokale Weine, unter anderem von dem vor 20 Jahren ausgewanderten Deutschen Uwe Urbach, und typisches regionales Essen. Unbedingt probieren sollte man die papas arrugados (gesalzene Kartoffeln), serviert mit roter und grüner Soße (mojo verde und mojo roja).
Unbedingt mitbringen
Das schwarze Lavagestein, aus dem El Hierro praktisch besteht, eignet sich ganz wunderbar zur Schmuckverarbeitung. Aus kleinen und großen Kugeln haben Designer Ketten, Ringe und Ohrringe gefertigt. Da es auf El Hierro wenig Souvenirläden und schon gar keine Juweliere gibt, lässt sich der Lavaschmuck am besten am Flughafen oder in dem kleinen Laden erstehen, der zur Echsenaufzuchtstation und dem Ecomuseum Guinea in der Nähe Fronteras gehört. (sim)