Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Übergriffe im Pfadfinderzelt
Französische Kirche soll ehemaligen Priester jahrzehntelang gedeckt haben
PARIS - Mit unsicheren Schritten betritt Bernard Preynat den Gerichtssaal. Mit seinem grauen Bart erinnert der frühere Priester eher an einen netten Onkel als an einen Kinderschänder. Und doch muss der 74-Jährige sich vor dem Strafgericht Lyon seit Dienstag wegen Pädophilie verantworten. Zehn seiner Opfer treten im größten Prozess wegen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche Frankreichs als Zivilkläger auf.
Mit drastischen Worten schildern die inzwischen über 40-Jährigen, wie der Geistliche sich an ihnen rieb, seine Hand in ihre Hose schob oder sie zum Masturbieren zwang. An vier bis fünf Jungen habe er sich pro Woche vergangen, bekennt Preynat in dem Prozess. Er hatte regelmäßig Kontakt zu Kindern, war er doch Pfadfinder-Seelsorger einer Gemeinde der Diözese Lyon. Seine Opfer beschreiben immer dieselben Szenen: Der Priester lockte sie bei den Pfadfinderlagern in sein Zelt oder bat sie in seiner Pfarrei in die Sakristei, um sie unsittlich zu berühren. Zwei Vergewaltigungen räumt der Angeklagte ein. „Ich war mir der Schwere meiner Taten nicht bewusst“, sagt der einstige Priester, der im vergangenen Jahr in den Laienstand zurückversetzt wurde, vor Gericht.
Während seine Opfer von sexuellem Missbrauch sprechen, will er sie nur „gestreichelt“haben. Er selbst sei als Kind ebenfalls missbraucht worden, gibt er zu Protokoll. Auch die Kirchenhierarchie macht der frühere Geistliche für das mitverantwortlich, was er getan hat. Schließlich
habe die schon vor seiner Priesterweihe von seinem dunklen Geheimnis gewusst. Preynat hatte bereits mit 17 in einem Feriencamp Kinder missbraucht und sich deshalb Ende der 1960er-Jahre einer Therapie unterzogen. 1971 wurde er trotzdem zum Priester geweiht. 20 Jahre lang verging er sich danach an Jungen, „fast jedes Wochenende“, wie er selbst zugibt. Noch Jahrzehnte später erinnern sich die Opfer an die Details und leiden unter den Folgen.
„Ich ertrage es nicht, dass man mich berührt, deshalb schneide ich meine Haare selber“, gesteht der 41-jährige Jean-François laut der Zeitung „Le Monde“vor Gericht.
Gedeckt wurde Preynat von einer Kultur des Schweigens, die in der katholischen Kirche bis zu den ersten Missbrauchsskandalen in Irland und den USA galt. Auch im Bistum Lyon wurden alle Berichte und Sorgen von Eltern, die sich schon in den 1980erJahren an die Kirchenhierarchie wandten, vom Tisch gewischt. „Das sind Gerüchte, die im Umlauf sind, aber es gab keine Vergewaltigungen“, reagierte ein Vertreter des Bistums 1990.
Preynat, der die Vorwürfe schon damals bestätigte, wurde versetzt und das Problem schien erledigt. Bis sich mehrere Opfer gut 20 Jahre später zur Vereinigung „La Parole Libérée“(die befreite Rede) zusammenschlossen und Anzeige erstatteten. Sie wollten die Omertà, das Gesetz des Schweigens, brechen, das bis an die Spitze der Diözese von Lyon reichte. Dort war Kardinal Philippe Barbarin seit 2002 über das Verhalten seines Priesters mutmaßlich informiert und hielt ihn doch weiter im Amt. Auch mit Kindern durfte Preynat weiter arbeiten. Wegen „Nichtanzeige der sexuellen Übergriffe auf Minderjährige“wurde Barbarin deshalb im vergangenen Jahr zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, gegen die er Berufung einlegte. Das Urteil soll Ende Januar fallen. Bis dahin ist der Kardinal, dessen Rücktritt der Papst ablehnte, beurlaubt.
„Gott sei gelobt“seien die Taten inzwischen verjährt, sagte der Kirchenmann, der lange als Papstanwärter galt, 2016 bei einer Pressekonferenz. Eine unglückliche Äußerung, die François Ozon zum Titel seines Films „Grâce à Dieu“(Gelobt sei Gott) inspirierte. Darin erzählt der Regisseur die Geschichte dreier Opfer Preynats, deren Leben noch heute von den Ereignissen ihrer Kindheit gezeichnet sind. Die Männer gibt es wirklich. Sie sitzen in Lyon im Gerichtssaal und warten auf die Verurteilung ihres Peinigers. Preynat drohen bis zu zehn Jahre Haft.