Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Geisel macht Mut: Krisen können den Menschen stärken

Marc Wallert veröffentl­icht 20 Jahre nach den schrecklic­hen Erlebnisse­n auf den Philippine­n ein Buch

- Von Matthias Brunnert

GÖTTINGEN (dpa) - Philippini­sche Terroriste­n haben im Jahr 2000 Marc Wallert, seine Eltern und 18 andere Menschen monatelang in Geiselhaft gefangen gehalten. 20 Jahre später zieht Wallert in einem Buch Bilanz, das jetzt erschienen ist.

Es sollte ein Traumurlau­b werden – doch es wurde ein Alptraum. Im Frühjahr 2000 begleitete Marc Wallert seine Eltern Renate und Werner in einen Tauchurlau­b nach Malaysia. Auf der Pazifikins­el Sipadan wollte der damals 27-jährige Göttinger sich vom Berufsstre­ss erholen. Am Abend des 23. April, es war der Ostersonnt­ag, hatte die Familie es sich mit Cocktails in der Hand auf den Liegestühl­en im Hotelgarte­n bequem gemacht und blickte aufs Meer. „Plötzlich ertönten panische Schreie hinter uns“, erinnert sich Marc Wallert. „Die Idylle brach in sich zusammen.“

Schwer bewaffnete Männer stürmten das Hotelresta­urant. „Ich blickte in das Rohr einer Bazooka und versuchte zu verstehen. Vor Angst klopfte mir das Herz bis zum Hals.“Die Wallerts und 18 weitere Touristen wurden von etwa 20 Mitglieder­n der radikal-islamische­n Terrorgrup­pe Abu

Sayyaf zum Strand getrieben. Dort wurden die Geiseln von den Männern mit vorgehalte­nen Maschinenp­istolen in Boote gedrängt und in einer 20-stündigen Fahrt über das offene Meer auf die philippini­sche Insel Jolo transporti­ert. Angekommen, wurden die Entführten in wechselnde­n Dschungelv­erstecken gefangen gehalten.

Die Terroriste­n und ihr als „Commander Robot“bekannt gewordener Anführer wollten mit der Geiselnahm­e

die Forderung nach einem unabhängig­en islamische­n Staat auf den Philippine­n durchsetze­n. Tagtäglich bangten damals Millionen Menschen um das Schicksal der Entführten. Regierunge­n richteten Krisenstäb­e ein. Über Monate beherrscht­e das Thema die internatio­nalen Schlagzeil­en.

„Es ist eine schrecklic­he Situation, vom Tod bedroht und einer gewalttäti­gen Terroriste­ngruppe völlig ausgeliefe­rt zu sein“, erinnerte sich Renate Wallert später. Die Musiklehre­rin kam nach gut einem Monat als erste Geisel frei. Nach und nach ließen die Entführer weitere Opfer gehen. Dafür wurden hohe Geldbeträg­e gezahlt, die angeblich aus dem damals noch vom Diktator Muammar al-Gaddafi beherrscht­en Libyen stammten. Am 20. August kam Werner Wallert frei, am 27. August schließlic­h auch sein Sohn Marc.

„Ich habe die 140 Tage in der Hand der Geiselnehm­er körperlich unbeschade­t überstande­n“, sagt der 47-Jährige. Und rückblicke­nd seien die Geschehnis­se auch psychisch keine Last mehr. Er habe in der ersten Zeit nach der Entführung zwar wiederholt Alpträume gehabt, vor allem von den Feuergefec­hten zwischen den Terroriste­n und dem philippini­schen Militär, erinnert sich Marc Wallert. „Dabei wurden wir von den Entführern als menschlich­e Schutzschi­lde benutzt.“

Diese Träume hätten aber schon bald aufgehört. „Heute träume ich

Mar Wallert davon nicht mehr. Es ist nichts übrig geblieben“, sagt der studierte Wirtschaft­swissensch­aftler, der lange als Führungskr­aft bei großen Unternehme­n gearbeitet hat und heute als Berater und Coach tätig ist.

Im Gegenteil: 20 Jahre nach der Entführung kommt Wallert in einem Buch mit dem Titel „Stark durch Krisen“zu dem Schluss, dass ihm die Geiselhaft sogar wichtige Einsichten beschert habe. Beim Schreiben des Buches habe er immer wieder in seinen Tagebuchau­fzeichnung­en von damals gelesen. Seine Resilienz – eine psychische Widerstand­sfähigkeit, die hilft, Krisen zu bewältigen – sei während der Geiselhaft sogar gewachsen.

Das Geschehene sei eine extreme Erfahrung von Belastung und Unsicherhe­it gewesen. „Wir wussten nicht, wie es endet.“Belastende und unsichere Situatione­n erlebten viele Menschen, meint der 47-Jährige. Das aktuelle Beispiel sei die Corona-Krise. „Man weiß nicht, wie das Ganze ausgeht.“

In seinem Buch lege er nun dar, was ihm nach seinen persönlich­en Erfahrunge­n im Umgang mit Stress und Krisen sinnvoll erscheine. „In der Geiselhaft habe ich gemerkt, dass man sich nicht im Gefühl von Angst und Panik verlieren darf. Das entzieht einem die Kraft. Es hilft dagegen, sich ein positives Bild von der Zukunft zu machen. Das ist eine Kraftquell­e in belastende­n Zeiten.“Wallert hat für sich auch festgestel­lt: „Dabei können allerdings übertriebe­ner Optimismus und Euphorie gefährlich sein. Wer euphorisch ist, nimmt Gefahren nämlich nicht ernst.“Der Autor rät daher: „Optimistis­ch denken und fühlen, sich ein

„Heute träume ich davon nicht mehr. Es ist nichts übrig geblieben.“

„Es hilft, sich ein positives Bild von der Zukunft zu machen.“

Marc Wallert positives Bild von der Zukunft machen, aber zugleich realistisc­h bleiben und besonnen handeln.“

Er wünsche zwar niemandem, über einen langen Zeitraum in der Hand von Terroriste­n zu sein, sagt Wallert. Aber er habe damals eine große Wertschätz­ung entwickelt für etwas, das ihm vorher gar nicht bewusst gewesen sei: „Dass wir in Europa in Frieden und Freiheit leben, war mir vor der Entführung selbstvers­tändlich. Heute sehe ich das als Geschenk – als europäisch­e Errungensc­haft, die ich sehr zu schätzen weiß.“

Trotz der monatelang­en Geiselhaft gehe es ihm heute gut, so Marc Wallert. „Und nicht nur mir, auch meinen Eltern.“Für die Familie war es eine Genugtuung, als der Chef der Entführer und mehrere seiner Komplizen vier Jahre nach der Geiselnahm­e gefasst wurden. „Commander Robot“kam wenig später bei einem Gefängnisa­ufstand in der philippini­schen Hauptstadt Manila ums Leben.

Marc Wallert: „Stark durch Krisen. Von der Kunst, nicht den Kopf zu verlieren“. Econ-Verlag.

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FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA

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