Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Verwirrende Zahlen
Warum es bei der Zählung von Infizierten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt
JENA/BALTIMORE (dpa) - Eine der wohl meist zitierten Universitäten dieser Tage ist die Johns Hopkins University. Sie hat, was alle begehren: Zahlen zur Coronavirus-Pandemie. Weltweit und quasi dauernd aktualisiert, grafisch aufbereitet. Selbst für Deutschland werden eher Zahlen der privaten Uni aus Baltimore im USBundesstaat Maryland genommen als von der hiesigen Bundesoberbehörde für Infektionskrankheiten, dem Robert Koch-Institut (RKI).
„Zahlen sind scheinbar objektiv und man glaubt ihnen eher“, erläutert André Scherag vom Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften der Universität Jena. „Sie suggerieren eine Sicherheit. Das ist ja das, was man im Moment gerne hätte.“Doch die derzeit verfügbaren Zahlen haben so ihre Tücken. Das föderale System der Bundesrepublik bringt es mit sich, dass in den Bundesländern unterschiedliche Behörden die Daten erfassen, bündeln und zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlichen. So sind die ersten in der Regel die örtlichen Gesundheitsämter. Sie übermitteln ihre Daten an die Landesgesundheitsämter. Je nachdem, wer hier wann mit den Zahlen an die Öffentlichkeit geht, können die Daten von außen betrachtet schon dann nicht mehr übereinstimmen.
Das RKI sammelt die Zahlen aus den Ländern – und hinkt somit schon automatisch mit der Veröffentlichung hinterher. Das wurde etwa am Wochenende deutlich, als manche schon einen abflachenden Verlauf der Neuinfektionen bejubelten. Das RKI verwies aber auf den Zeitverzug: „Am aktuellen Wochenende wurden nicht aus allen Ämtern Daten übermittelt, sodass der hier berichtete Anstieg der Fallzahlen nicht dem tatsächlichen Anstieg der Fallzahlen entspricht. Die Daten werden am Montag nachübermittelt und ab Dienstag auch in dieser Statistik verfügbar sein.“Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederum bekommt die Angaben von den nationalen Behörden – also noch später.
Nun gibt es verschiedene Stellen, die selbst Daten überregional erheben. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) beispielsweise versucht, schneller als das RKI eine deutschlandweite Übersicht zu bekommen. Dafür summiert sie die Angaben von den Landesbehörden. Die Johns Hopkins University wiederum gibt als Quelle ihrer deutschen Zahlen die niederländische Nachrichtenagentur BNO News in Tilburg an, die sich auf Zahlen der „Berliner Morgenpost“bezieht. Marie-Louise Timcke, die das Interaktivteam der Funke Mediengruppe leitet, zu der die „Morgenpost“gehört, hat zwar keinen direkten Kontakt zur Uni – aber durchaus schon bemerkt: „Immer wenn wir manuell neue Zahlen eintragen, haben die irgendwann die gleichen.“Auch die „Morgenpost“nutzt laut Timcke die Zahlen der Landesgesundheitsämter. Über den Umweg Tilburg und Baltimore landen die Daten dann in den deutschen Nachrichten mit Quelle Johns Hopkins.
Scherag warnt vor Ländervergleichen: Während in Deutschland inzwischen eher breit auf Sars-CoV-2 getestet werde, werde in Italien aufgrund des Drucks nur sehr selektiv getestet, oder es mangele an Testdurchführungen wie in den USA. Für das eigene Land unter konstanten Bedingungen lasse sich die Entwicklung aber dennoch relativ gut ablesen. „In der Regel kann man Trends innerhalb einer Region gut erkennen.“Hinzu komme allerdings eine hohe Dunkelziffer von Infizierten, die auf Basis einer aktuellen chinesischen Studie auf das Zehnfache der vorliegenden Zahlen geschätzt werden müsse.
Kann man also all die Zahlen nicht für bare Münze nehmen? „Das ist keine Atomphysik“, sagt Scherag. Keine Quelle liefere hundertprozentig genaue Daten. Aber die deutschen Behörden und die Johns Hopkins University haben hochkonsistente Daten. „Das hilft uns zu erkennen, ob die Dynamik sich ändert, und Maßnahmen zu planen“, so der Professor.