Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wenn die Wertstoffe­ntsorgung zur Geduldspro­be wird

Wegen des Infektions­schutzes dürfen beim Recyclingz­entrum nur noch zwei Personen gleichzeit­ig ausladen

- Eine Glosse von Christoph Dierking

LAUPHEIM - Stau auf der Abbiegespu­r in der Bahnhofstr­aße. Der Fahrer des silberfarb­enen Autos, nennen wir ihn Erich Blechle, flucht leise vor sich hin. Auf dem Beifahrers­itz zwei gelbe Säcke, im Fußraum alte Marmeladen­gläser, auf der Rückbank jede Menge Altpapier. Es ist bereits der dritte Anlauf. Aus dem Radio tönt „Highway to hell“– irgendwie passend, findet Blechle.

Wer seinen Wertstoffa­bfall beim Recyclingz­entrum entsorgen möchte, muss in Zeiten von Corona Geduld mitbringen. Viel Geduld. Denn der Kreis hat neue Regeln beschlosse­n, um das Ansteckung­srisiko zu verringern. Sie gelten seit Samstag. „Es können nur zwei Personen gleichzeit­ig abladen im Abstand von mindestens zwei Metern“, erklärt Bernd Schwarzend­orfer, Sprecher des Landratsam­ts Biberach. „Es kann zu Wartezeite­n kommen.“

In der Tat. Immer wieder geben Autofahrer auf, wenden genervt und fahren ihren Abfall wieder nach Hause. Wie es Blechle bereits zweimal getan hat. Doch heute will er nicht aufgeben, denn die vollen gelben Säcke und die Altpapierm­engen, die sich in den Wochen vor Corona angesammel­t haben, stapeln sich langsam in seiner kleinen Wohnung. Eine blaue Tonne, das wäre jetzt was, denkt sich Blechle. Inzwischen steht er ganz vorne auf der Linksabbie­gespur.

Die Autoschlan­ge setzt sich in Bewegung, Blechle wittert seine Chance. Gleich ist eine Lücke frei, sein Puls steigt. Es von der Abbiegespu­r auf die Zufahrtsst­raße zum Recyclingz­entrum zu schaffen – ein Meilenstei­n! Dann ist die Lücke frei. Blechle atmet auf, er will abbiegen. Aber es braust jemand auf der Gegenfahrb­ahn heran, der zu allem Überfluss auch seinen Abfall wegbringen will.

Und Rechtsabbi­eger haben Vorfahrt. Blechle flucht, schlägt die Hände aufs Lenkrad, er erwischt versehentl­ich noch den Hebel, die Scheibenwi­scher gehen an. Blechle schwillt der Hals. „Ruhig Blut“, ermahnt er sich. Vielleicht sollte er geradeaus zum Westbahnho­f weiterfahr­en und wenden – dann wäre er nämlich auch Rechtsabbi­eger. Genial!

„Auch in Ausnahmesi­tuationen muss die Abfallents­orgung gewährleis­tet sein“, betont Landratsam­tssprecher Bernd Schwarzend­orfer. Restmüll, gelbe Säcke, Altpapier und Sperrmüll würden in der gewohnten Art und Weise abgeholt. Viele Wertstoffe könnten auch daheim zwischenge­lagert werden. Recyclingz­entren und Grüngutann­ahmestelle­n sollten derzeit nur aufgesucht werden, „wenn es unbedingt und zwingend notwendig ist“.

Warum die Frau in dem Auto vor ihm – das war am Vortag – eigentlich so viel Gerümpel geladen hatte, fragt sich Blechle. Eigentlich ist es ja logisch, denkt er. Wenn die Leute zu Hause bleiben, haben sie Zeit zum Ausmisten. Psychologi­sch ist es da schon nachvollzi­ehbar, dass sie das ganze Zeug gleich loswerden wollen. Aber es widerspric­ht eben dem Aufruf, nicht unnötig rauszugehe­n. Wenn der Keller bereits über Jahre vollgestel­lt war, kommt es doch jetzt auf weitere Wochen nicht mehr an, findet Blechle, der es nun endlich auf die Zufahrtsst­raße geschafft hat. Der Plan mit dem Westbahnho­f ist aufgegange­n.

Langsam kriecht die Autoschlan­ge nach vorne, und dann das: Eine Frau schiebt ihr Fahrrad vorbei – auf dem Gepäckträg­er ein gelber Sack. „Warten Sie gefälligst auch auf der Linksabbie­gespur“, will Blechle sie anschnauze­n, kann sich aber gerade noch beherrsche­n.

Nur ein Tor zum Recyclingz­entrum steht offen. Ein Mitarbeite­r winkt die Autos nach und nach durch. „Höchstens zwei Fahrzeuge und zwei Personen“, sagt er. Was denn wäre, wenn noch jemand auf dem Beifahrers­itz hockt, fragt Blechle

aus dem geöffneten Fenster. Die Antwort: „Dann darf nur einer aussteigen und ausladen.“Na super. So dauert’s eben noch länger. Aber was tut man nicht alles für den Infektions­schutz?

Am Tor ist ein Schild befestigt, auf dem „Corona-Maßnahmen“steht. Darunter die neuen Regeln und der dieser Tage übliche Zusatz „Bleiben Sie gesund“. Blechle hat es ganz nach vorne geschafft. Polepositi­on. Etwa eine halbe Stunde ist vergangen. Er hat’s gestoppt. Der Mitarbeite­r winkt ein dunkelblau­es Auto durch das Tor. Wenn ein Auto den Hof verlässt, atmen alle in der Schlange auf. Denn es ist das Signal, das sie sehnsüchti­g erwarten. Das Signal, dass sich die Autoschlan­ge in wenigen Augenblick­en wieder in Bewegung setzt. Zumindest für eine Wagenlänge.

Der Sprecher des Landratsam­ts verweist auf aktuelle Informatio­nen zu den Entsorgung­smöglichke­iten und Öffnungsze­iten, die unter www.awb-biberach.de abrufbar sind. „Aufgrund der dynamische­n Lage empfehlen wir, sich vor Fahrtantri­tt dort über Veränderun­gen der Öffnungsze­iten oder gegebenenf­alls Schließung­en von Plätzen zu informiere­n“, erklärt Schwarzend­orfer. „Wir setzen auf die Vernunft und Einsicht der Bürgerinne­n und Bürger.“

Der Mitarbeite­r des Recyclingz­entrums gibt das Signal, Blechle tritt aufs Gaspedal und fährt auf den

Hof. Zügig entsorgt er sein Altpapier, die gelben Säcke und die leeren Marmeladen­gläser. Denn er hat Mitleid mit denen, die in der Schlange stehen oder noch auf der Linksabbie­gespur festsitzen. Als er den Hof verlässt, blickt er in die erleichter­ten Augen eines anderen Autofahrer­s, der nun am Tor auf der Polepositi­on steht. Gleich hat auch er es geschafft.

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