Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wenn die Wertstoffentsorgung zur Geduldsprobe wird
Wegen des Infektionsschutzes dürfen beim Recyclingzentrum nur noch zwei Personen gleichzeitig ausladen
LAUPHEIM - Stau auf der Abbiegespur in der Bahnhofstraße. Der Fahrer des silberfarbenen Autos, nennen wir ihn Erich Blechle, flucht leise vor sich hin. Auf dem Beifahrersitz zwei gelbe Säcke, im Fußraum alte Marmeladengläser, auf der Rückbank jede Menge Altpapier. Es ist bereits der dritte Anlauf. Aus dem Radio tönt „Highway to hell“– irgendwie passend, findet Blechle.
Wer seinen Wertstoffabfall beim Recyclingzentrum entsorgen möchte, muss in Zeiten von Corona Geduld mitbringen. Viel Geduld. Denn der Kreis hat neue Regeln beschlossen, um das Ansteckungsrisiko zu verringern. Sie gelten seit Samstag. „Es können nur zwei Personen gleichzeitig abladen im Abstand von mindestens zwei Metern“, erklärt Bernd Schwarzendorfer, Sprecher des Landratsamts Biberach. „Es kann zu Wartezeiten kommen.“
In der Tat. Immer wieder geben Autofahrer auf, wenden genervt und fahren ihren Abfall wieder nach Hause. Wie es Blechle bereits zweimal getan hat. Doch heute will er nicht aufgeben, denn die vollen gelben Säcke und die Altpapiermengen, die sich in den Wochen vor Corona angesammelt haben, stapeln sich langsam in seiner kleinen Wohnung. Eine blaue Tonne, das wäre jetzt was, denkt sich Blechle. Inzwischen steht er ganz vorne auf der Linksabbiegespur.
Die Autoschlange setzt sich in Bewegung, Blechle wittert seine Chance. Gleich ist eine Lücke frei, sein Puls steigt. Es von der Abbiegespur auf die Zufahrtsstraße zum Recyclingzentrum zu schaffen – ein Meilenstein! Dann ist die Lücke frei. Blechle atmet auf, er will abbiegen. Aber es braust jemand auf der Gegenfahrbahn heran, der zu allem Überfluss auch seinen Abfall wegbringen will.
Und Rechtsabbieger haben Vorfahrt. Blechle flucht, schlägt die Hände aufs Lenkrad, er erwischt versehentlich noch den Hebel, die Scheibenwischer gehen an. Blechle schwillt der Hals. „Ruhig Blut“, ermahnt er sich. Vielleicht sollte er geradeaus zum Westbahnhof weiterfahren und wenden – dann wäre er nämlich auch Rechtsabbieger. Genial!
„Auch in Ausnahmesituationen muss die Abfallentsorgung gewährleistet sein“, betont Landratsamtssprecher Bernd Schwarzendorfer. Restmüll, gelbe Säcke, Altpapier und Sperrmüll würden in der gewohnten Art und Weise abgeholt. Viele Wertstoffe könnten auch daheim zwischengelagert werden. Recyclingzentren und Grüngutannahmestellen sollten derzeit nur aufgesucht werden, „wenn es unbedingt und zwingend notwendig ist“.
Warum die Frau in dem Auto vor ihm – das war am Vortag – eigentlich so viel Gerümpel geladen hatte, fragt sich Blechle. Eigentlich ist es ja logisch, denkt er. Wenn die Leute zu Hause bleiben, haben sie Zeit zum Ausmisten. Psychologisch ist es da schon nachvollziehbar, dass sie das ganze Zeug gleich loswerden wollen. Aber es widerspricht eben dem Aufruf, nicht unnötig rauszugehen. Wenn der Keller bereits über Jahre vollgestellt war, kommt es doch jetzt auf weitere Wochen nicht mehr an, findet Blechle, der es nun endlich auf die Zufahrtsstraße geschafft hat. Der Plan mit dem Westbahnhof ist aufgegangen.
Langsam kriecht die Autoschlange nach vorne, und dann das: Eine Frau schiebt ihr Fahrrad vorbei – auf dem Gepäckträger ein gelber Sack. „Warten Sie gefälligst auch auf der Linksabbiegespur“, will Blechle sie anschnauzen, kann sich aber gerade noch beherrschen.
Nur ein Tor zum Recyclingzentrum steht offen. Ein Mitarbeiter winkt die Autos nach und nach durch. „Höchstens zwei Fahrzeuge und zwei Personen“, sagt er. Was denn wäre, wenn noch jemand auf dem Beifahrersitz hockt, fragt Blechle
aus dem geöffneten Fenster. Die Antwort: „Dann darf nur einer aussteigen und ausladen.“Na super. So dauert’s eben noch länger. Aber was tut man nicht alles für den Infektionsschutz?
Am Tor ist ein Schild befestigt, auf dem „Corona-Maßnahmen“steht. Darunter die neuen Regeln und der dieser Tage übliche Zusatz „Bleiben Sie gesund“. Blechle hat es ganz nach vorne geschafft. Poleposition. Etwa eine halbe Stunde ist vergangen. Er hat’s gestoppt. Der Mitarbeiter winkt ein dunkelblaues Auto durch das Tor. Wenn ein Auto den Hof verlässt, atmen alle in der Schlange auf. Denn es ist das Signal, das sie sehnsüchtig erwarten. Das Signal, dass sich die Autoschlange in wenigen Augenblicken wieder in Bewegung setzt. Zumindest für eine Wagenlänge.
Der Sprecher des Landratsamts verweist auf aktuelle Informationen zu den Entsorgungsmöglichkeiten und Öffnungszeiten, die unter www.awb-biberach.de abrufbar sind. „Aufgrund der dynamischen Lage empfehlen wir, sich vor Fahrtantritt dort über Veränderungen der Öffnungszeiten oder gegebenenfalls Schließungen von Plätzen zu informieren“, erklärt Schwarzendorfer. „Wir setzen auf die Vernunft und Einsicht der Bürgerinnen und Bürger.“
Der Mitarbeiter des Recyclingzentrums gibt das Signal, Blechle tritt aufs Gaspedal und fährt auf den
Hof. Zügig entsorgt er sein Altpapier, die gelben Säcke und die leeren Marmeladengläser. Denn er hat Mitleid mit denen, die in der Schlange stehen oder noch auf der Linksabbiegespur festsitzen. Als er den Hof verlässt, blickt er in die erleichterten Augen eines anderen Autofahrers, der nun am Tor auf der Poleposition steht. Gleich hat auch er es geschafft.