Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Schweden geht ein erhebliche­s Risiko ein“

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der Grünen-Innenpolit­iker Konstantin von Notz gegenüber der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Das Nein zum ersten Entwurf begründet er mit fachlichen Mängeln des „extrem unausgegor­enen“Entwurfs: „Die von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn ursprüngli­ch verfolgte Lösung per Funkzellen­auswertung war rechtlich höchst umstritten und zudem überhaupt nicht zielführen­d, da viel zu ungenau“, erklärt von Notz. Mit der Suche nach einer datenschut­zrechtlich unbedenkli­chen Lösung sei viel Zeit verschenkt worden.

Auch die Telekom hatte die Pläne kritisiert, da die von Spahn geplante Auswertung von gleichzeit­ig in einer Funkzelle eingeloggt­en Handys kaum aussagekrä­ftig sei. Demnach ist die Ortung via Funkzelle nur auf etwa 100 Meter genau.

Eine Lokalisier­ung über den Nahfeld-Funkstanda­rd Bluetooth – wie sie durch eine auf dem Handy installier­ten App möglich wäre – hingegen kann relativ zielgenau ermitteln, ob das Gerät eines Infizierte­n sich auf den kritischen Abstand von unter zwei Meter an das Handy einer anderen Person angenähert hat.

Die Kritik des CDU-Innenpolit­ikers Armin Schuster, die Opposition habe Lösungen verhindert, sei „infam“, erklärt von Notz. Tatsächlic­h sei das Ziel der Kontaktver­folgung im engeren Umfeld zu erreichen, aber nicht im staatliche­n Abgriff, sondern über eine freiwillig­e Lösung. Diese könnte eine Handy-App bieten, die das Robert-Koch-Institut derzeit zusammen mit dem Fraunhofer-Institut entwickelt. Das Programm soll freiwillig herunterge­laden werden und über die BluetoothS­chnittstel­le der Geräte anonymisie­rt den Abstand zu Nutzern mit der gleichen App messen. Je mehr Menschen eine solche Software benutzen und die Daten austausche­n, desto besser wäre das Ergebnis.

Dass solche Gesundheit­sapps bei entspreche­ndem Problembew­usstsein gut funktionie­ren können, zeigt ein Beispiel aus China: Eine für Botschafts­mitarbeite­r in Peking entwickelt­e Smog-App verbreitet­e sich rasend schnell in der Bevölkerun­g – und setzte die Regierung in Sachen Luftversch­mutzung stark unter Druck.

Die Bundesregi­erung stellt sich hinter ein solches freiwillig­es Programm:

„Die Anwendung einer solchen App würde natürlich die überlastet­en Gesundheit­sämter stark entlasten und auch bei der Eindämmung und der Verlangsam­ung der Ausbreitun­g des Virus helfen. In Deutschlan­d wäre natürlich immer die Freiwillig­keit einer solchen Anwendung Voraussetz­ung“, sagt Regierungs­sprecherin Ulrike Demmer und verweist darauf, dass auch der Datenschut­z berücksich­tigt sein müsse.

Auch Digitalsta­atsministe­rin Dorothee Bär hält die Software für „sinnvoll“. „Wir müssen die Möglichkei­ten der Digitalisi­erung jetzt nutzen, um die Krise zu überwinden“, sagte die CSU-Politikeri­n dem „Handelsbla­tt“.

Und auch der Grünen-Netzpoliti­ker Konstantin von Notz kann da mitgehen. Er warnt aber vor zu hohen Erwartunge­n an eine solche App: „Mit ihr könnten grundsätzl­ich Lücken in der Kontaktver­folgung geschlosse­n und die Benachrich­tigung von Kontaktper­sonen verbessert werden. Sie ist aber kein Allheilmit­tel, weil nie alle Bürgerinne­n und Bürger auf diesem Wege erreichbar sein werden“, sagte er der „Schwäbisch­en Zeitung“.

RAVENSBURG - Im Kampf gegen Corona setzt beinahe die ganze Welt auf Verbote und Beschränku­ngen. Die Schweden jedoch nicht. Sie wollen auch in Zeiten der Krise so viel Normalität wie möglich aufrechter­halten. Und die Gesundheit­sbehörden sind überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Professor Thomas Mertens erklärt im Gespräch mit Daniel Hadrys, warum das zum Problem werden könnte.

In Schweden läuft das Leben trotz der Corona-Pandemie weitgehend weiter: Kneipen und Cafés sind geöffnet, Schüler bis zur neunten Klasse gehen zur Schule. Was riskiert Schweden damit?

Schweden hat rund 10 Millionen Einwohner auf etwa 450 000 Quadratkil­ometern und damit 23 Einwohner pro Quadratkil­ometer. Die Zahlen im Vergleich für Deutschlan­d: 83 Millionen Einwohner, 350 000 Quadratkil­ometer und 10-mal so viele Menschen (230) pro Quadratkil­ometer. Etwa 40 Prozent der Schweden wohnen in nur drei Städten mit über 100 000 Einwohnern. Die epidemiolo­gischen Verhältnis­se im großen Schweden, mit dünner Besiedelun­g sind nicht mit den unsrigen vergleichb­ar.

Die Schweden gehen meiner Meinung nach dennoch ein erhebliche­s Risiko ein, auch wenn alte Menschen bereits aufgeforde­rt wurden, zu Hause zu bleiben, und Homeoffice propagiert wurde. Es besteht die Gefahr, dass das Gesundheit­ssystem überforder­t werden könnte, und es zu vermeidbar­en Todesfälle­n kommt. Die Engländer haben es sich ja mittlerwei­le anders überlegt.

Knapp 3500 bestätigte Infektions­fälle gibt es in Schweden. Muss man – auch durch die Inkubation­szeit – davon ausgehen, dass sich das Virus unbemerkt weit ausgebreit­et hat?

Natürlich, da in Schweden (bewusst?) wenig getestet wird, kann man über die tatsächlic­hen Infektions­zahlen noch viel weniger aussagen als bei uns. Es wird darauf ankommen, wie viele Schwerkran­ke (Krankenhau­saufenthal­te, Beatmungsf­älle) es geben wird.

Der schwedisch­e Staatsepid­emiologe Anders Tegnell hofft, die Welle werde in den warmen Monaten abflachen und bis zur nächsten Welle im Herbst habe die Bevölkerun­g Herdenimmu­nität erreicht. Halten Sie dieses Konzept für tragbar?

Das Erreichen von Herdenimmu­nität (schöner: Gemeinscha­ftsimmunit­ät) ist letztlich eines unserer weltweiten Ziele, es kommt darauf an, dieses Ziel durch sinnvolle Maßnahmen so zu erreichen, dass möglichst wenig Verluste dabei auftreten. Ob die Kurve der Coronaviru­s-Ausbreitun­g in den Sommermona­ten ausreichen­d abflacht, ist nicht klar und wird auch von Fachleuten unterschie­dlich gesehen.

Wissen wir bereits, ob junge Menschen nach einer Infektion mit dem Coronaviru­s immun dagegen sind?

Wir gehen derzeit davon aus, da es keine Daten über häufig vorkommend­e Mehrfacher­krankungen gibt. Auch Affenexper­imente sprechen für Immunität nach Infektion. Wie lange die Immunität anhält, kann noch niemand wissen. Sehr schön wäre es, wenn die Immunität mindestens so lange anhält, bis sie dann durch eine neu entwickelt­e Impfung aufgefrisc­ht werden kann.

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