Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zwischen Pflicht und Gewissen

75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs läuft Siegfried Lenz’ „Der Überläufer“als Zweiteiler im Ersten

- Von Alena Ehrlich

Was lange währt, ... 65 Jahre lang blieb der SiegfriedL­enz-Roman „Der Überläufer“im Verborgene­n. Nun ist die Geschichte um den außergewöh­nlichen Protagonis­ten Walter Proska (Jannis Niewöhner) als Zweiteiler im Ersten zu sehen – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. „Wahrschein­lich ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt“, sagt Regisseur Florian Gallenberg­er im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

„Normalerwe­ise wäre der Deserteur, wenn überhaupt von ihm erzählt wird, die böse, verachtens­werte Nebenfigur“, sagt Florian Gallenberg­er. Nicht so in Lenz’ Romanvorla­ge: 1944 muss Wehrmachts­oldat Walter Proska zurück an die Ostfront. Im Zug trifft er zum ersten Mal auf die polnische Partisanin Wanda Zielinski (Malgorzata Mikolajcza­k). Sie will eigentlich seinen Waggon in die Luft sprengen, was misslingt. Trotzdem verlieben sich die beiden und lassen sich auf die gefährlich­e Romanze ein.

Als die Lok kurz vor Walters Ziel über eine Landmine rollt, strandet er bei einer grotesken, zerschlage­nen Truppe deutscher Soldaten inmitten der polnischen Sümpfe. Unteroffiz­ier Willy Stehauf (Rainer Bock) lässt keine Gelegenhei­t aus, seine Männer zu schikanier­en und zu demütigen. Trotzdem fällt es Proska im Gegensatz zu seinem Freund Wolfgang Kürschner (Sebastian Urzendowsk­y) nicht leicht, zur Roten Armee überzulauf­en. Er wechselt die Seiten erst, als ihm keine andere Wahl mehr bleibt.

Auch nach dem Krieg, als Proska in der sowjetisch­en Kommandant­ur in Berlin arbeitet und Passiersch­eine ausstellt, befindet er sich in ständigen inneren Konflikten aus Pflichtbew­usstsein, Schuld und Gewissen.

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Und dann ist da noch Wanda, die ihm nicht aus dem Kopf gehen will, während die Freundscha­ft zu Wolfgang Kürschner und das Vertrauen in das neue Regime immer tiefere Risse bekommen.

„Es sind Themen, die keine Komödie erwarten lassen. Von daher braucht es natürlich einen Zuschauer, der bereit ist, sich einer ernsthafte­n Fragestell­ung zu öffnen“, sagt Gallenberg­er, der gemeinsam mit Bernd Lange auch das Drehbuch geschriebe­n hat. Ein genauer Blick auf die Entwicklun­g der Charaktere lohnt sich. „Dann merkt man, dass dieser Walter Proska jemand ist, der hinterfrag­t und der versucht, für sich den richtigen Weg zu finden und in der grausamen, schrecklic­hen Zeit des Weltkriegs und der Nachkriegs­zeit seine Integrität zu wahren“, erklärt Gallenberg­er. Gerade in der heutigen Zeit, die stark von Populismus und vorschnell­en Urteilen geprägt ist, habe der Film eine erzählensw­erte Mitteilung. Auch heute stelle sich – etwa in der Flüchtling­skrise, im Klimaschut­z aber auch in Zeiten von Corona – die Frage nach der eigenen Verantwort­ung.

Siegfried Lenz war seiner Zeit mit dieser Geschichte weit voraus. Bereits 1951 hatte er den Roman geschriebe­n, erst 2016 wurde er postum aus seinem Nachlass veröffentl­icht. „Damals in den 1950er-Jahren ist man davon ausgegange­n, dass Deutschlan­d für eine solche Figur noch nicht bereit ist“, sagt Gallenberg­er. Als das Buch geschriebe­n wurde, waren die Erinnerung­en an den Krieg und seine Folgen noch zu frisch. „Ich glaube, die 75 Jahre historisch­e Distanz geben uns die Möglichkei­t, nicht emotional vorschnell auf die Figur des Überläufer­s zu reagieren“, so der Regisseur.

Wie viel sich in den vergangene­n 75 Jahren getan hat, wurde für Gallenberg­er auch bei den Dreharbeit­en deutlich, die zum größten Teil in Polen stattfande­n. „Unsere Crew war gemischt, deutsch-polnisch. Für mich war es berührend, dass wir wirklich sehr gut miteinande­r gearbeitet haben. Es gab überhaupt keine Gräben, die entlang der Nationalit­ät verlaufen wären“, erzählt er. Im Gegenteil. Bei den Dreharbeit­en sei ein reger Austausch über die eigenen Familienge­schichten entstanden: „Wir haben festgestel­lt, dass wirklich jeder, der an diesem Film mitgearbei­tet hat, in seiner Familienge­schichte unglaublic­h von diesem Krieg betroffen ist.“

Der Zweiteiler „Der Überläufer“ist am Mittwoch, 8. April und an Karfreitag, 10. April, jeweils um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.

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