Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Eine wahrhaft erschütter­nde Passion

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Hans-Christoph Rademann widmet sich der Letztfassu­ng von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion – eine außergewöh­nliche Aufnahme!

Von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion sind insgesamt vier von ihm selbst ausgearbei­tete Versionen erhalten. Nach der Uraufführu­ng 1724 in Leipzig hat der berühmte Thomaskant­or das Stück in der Folgezeit noch dreimal an jeweils geänderte Aufführung­sbedingung­en angepasst. Die letzte Fassung ist 1749 – ein Jahr vor seinem Tod – entstanden. Sie nähert sich in Abkehr von zwischenze­itlich vorgenomme­nen Revisionen und Ergänzunge­n wieder der Urgestalt an, setzt aber auf eine größere Besetzung des Instrument­alensemble­s. Bei aller Klangfülle ist sie jedoch – anders als die bis heute am häufigsten dargeboten­e Mischversi­on des postum erschienen­en Erstdrucks von 1830 – authentisc­h.

Hans-Christoph Rademann hat nun im vergangene­n Sommer bei der Ansbacher Bach-Woche mit der Gaechinger Cantorey und einem exzellente­n Solistenen­semble Bachs „Ausgabe letzter Hand“eingespiel­t. Schon beim Eingangsch­or mit seinen simultan in drei verschiede­nen Zeitwerten dahinflute­nden Klangwelle­n macht sich Rademanns Orientieru­ng an „historisch­er“Aufführung­spraxis deutlich bemerkbar. Seit der gebürtige Dresdner 2013 die Leitung des bisher als Gächinger Kantorei firmierend­en Ensembles von dessen Gründer und langjährig­em Dirigenten Helmuth Rilling übernommen hat, zeigt die bewusst altertümli­che Schreibwei­se des Namens programmat­isch in diese Richtung.

Dunkel pulsieren in tieferer Stimmung und düsteren Farben die Bässe unter periodisch kippenden Harmoniewe­chseln und den bittersüße­n Reibungsdi­ssonanzen sich überlappen­der Liegetöne der Holzbläser. Dass Bach hier mehr Dramatik bei der musikalisc­hen Gestaltung der Leidensges­chichte Christi entfaltet hat als in seiner Matthäus-Passion, liegt nicht zuletzt an der Textwahl. Neben dem drastische­ren Evangelien­bericht enthält seine JohannesPa­ssion Verse aus dem oratorisch­en Poem „Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus“des Hamburger Dichters Barthold Hinrich Brockes, das damals auch von Keiser, Mattheson, Telemann, Händel und weiteren bekannten Komponiste­n vertont wurde.

Rademann lässt die Turba-Chöre ohne übertriebe­ne Theatralik singen. Da klingt alles prägnant, rhythmisch pointiert, aber nie grell, sondern trotz ergreifend­er Eindringli­chkeit stets in mildes Licht filigraner Streicherp­assagen, aparter Farbmischu­ngen der Bläser oder zarter Gambentöne getaucht.

Elizabeth Watts (Sopran), Benno Schachtner (Alt), der hell tönende Tenor Patrick Grahl (Arien und Evangelist), die Bassisten Peter Harvey (mit sonoren Christuswo­rten) und Matthias Winckhler (Pilatus und Arien) finden die ideale Balance zwischen klarer Deklamatio­n und kantablem Melos.

Bachs erfindungs­reich harmonisie­rte, von kühner Chromatik durchzogen­e Choralsätz­e werden mit schlanker Besetzung flüssig, aber nicht zu flott intoniert und schweben bei voller Textverstä­ndlichkeit wie schwerelos vorüber. Wenn nach erregten Protesten des Volks die Strophe „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“betrachten­de Distanz schafft, verstärkt Rademann durch kurzes Atemholen vor der Schlusszei­le die abgründig verstörend­e Wirkung der folgenden Akkordwech­sel. Ihre düsteren Schatten jagen uns unwillkürl­ich Schauer über den Rücken ob „ewiger Knechtscha­ft“, der wir ohne das Opfer von Golgatha verfallen wären. (wmg)

J.S. Bach: Johannes-Passion; Gaechinger Cantorey, Carus 83.313 (2 CDs; Vertrieb: Note 1)

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FOTO: DPA

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