Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Technologi­e statt Tierleid

- Von Sebastian Heilemann

FREIBURG/NEUBIBERG - Rund 300 Menschen haben sich auf einem Platz in Freiburg versammelt. Sie rufen Parolen, pusten ihre Empörung in Trillerpfe­ifen. „Steht auf gegen Tierversuc­he“, ist auf den Schildern zu lesen, die die Demonstran­ten hochhalten. Der Protest, der sich im Februar formierte, bevor die Corona-Krise das öffentlich­e Leben lahmlegte, richtet sich gegen ein neues Forschungs­zentrum, das die Universitä­tsklinik aktuell in der Studentens­tadt baut. 165 Wissenscha­ftler sollen dort künftig an schädliche­n Genverände­rungen forschen und herausfind­en, wie erkranktes Erbgut korrigiert werden kann. Rund 10 000 Tiere sollen dabei für Versuche zum Einsatz kommen. Baden-Württember­g ist in Sachen Tierversuc­he Spitzenrei­ter. In keinem anderen Bundesland setzten Wissenscha­ftler im Jahr 2018 mehr Versuchsti­ere ein. Rund 534 000 Tiere kamen laut Bundesland­wirtschaft­sminister zusammen. Für Tierschütz­er ist jedes einzelne davon zu viel. Und nun dieses Bauprojekt für 54 Millionen Euro – für die Demonstran­ten völliger Wahnsinn. Denn aus ihrer Sicht gibt es gute Alternativ­en.

An einer solchen arbeitet das Biotech-Unternehme­n Cellasys in den Laborräume­n der Akademie für Tierschutz in Neubiberg in der Nähe von München. Hinter einem schwarz-gelben Band auf dem Boden beginnt der Laborberei­ch, ab hier geht es nur mit Schuhüberz­iehern weiter. Joachim Wiest, der Cellasys-Geschäftsf­ührer, legt einen weißen Laborkitte­l und Gummihands­chuhe an. In einem Brutschran­k züchten er und seine Mitarbeite­r Zellkultur­en und verpflanze­n sie auf gelbe, drei mal drei Zentimeter große Quadrate, die von goldfarben­en Linien durchzogen sind – Mikrochips. Sie erfassen Sauerstoff­gehalt, PH-Wert und das Wachstumsv­erhalten der Proben. „Wir können mit dem Chip sehen, wie es den Zellen geht“, sagt Wiest. Die Wissenscha­ftler können Gewebezell­en so direkt mit einem Wirkstoff in Kontakt bringen und beobachten, wie diese darauf reagieren. So hat das Unternehme­n bereits ein Modell entwickelt, um herauszufi­nden, ob Stoffe Augenreizu­ngen auslösen. Dazu setzen die Wissenscha­ftler Bindegeweb­szellen auf ihre Messchips und beobachten, wie sich die Messparame­ter verändern. Ein Verfahren, das in Zukunft den sogenannte­n Draize-Test ersetzen könnte, bei dem die Prüfstoffe bislang noch in die Augen von Kaninchen geträufelt werden.

Derzeit arbeitet das Unternehme­n an einem Modell, mit dem Medikament­e darauf geprüft werden können, ob sie schädlich für die Leber sind. „Immer wieder werden Medikament­e vom Markt zurückgeru­fen, weil sie lebertoxis­ch sind“, sagt Wiest. Obwohl diese zuvor erfolgreic­h an Versuchsti­eren getestet wurden. „Weil der Stoffwechs­el von Tieren einfach anders ist, als der vom Menschen“, sagt Wiest. Doch Modelle wie dieses sind erst der Anfang. In Wiests Labor steht eine Art Kühlschran­k, in dem sechs Metallkäst­chen aufgereiht sind. In jedem davon einer der Mikrochips verbunden mit kleinen Schläuchen, durch die eine rötliche Nährstofff­lüssigkeit fließt – die Simulation eines Blutkreisl­aufs. So lassen sich mehrere Chips miteinande­r verschalte­n. In Zukunft können beispielsw­eise Chips mit Leberzelle­n und solche mit Krebszelle­n miteinande­r verbunden werden. So ließe sich beobachten, wie Leberzelle­n ein Medikament verstoffwe­chseln und dieses dann auf den Krebs einwirkt. Eine Möglichkei­t, um die Wirksamkei­t etwa von Chemothera­pien auf den Patienten zu testen, bevor der das Medikament überhaupt einnimmt – ohne jegliche Nebenwirku­ngen. Die Vision: Der ganze Mensch auf einem Chip.

Zahlreiche Universitä­ten und Biotech-Unternehme­n arbeiten derzeit an solchen Ansätzen. Am Lehrstuhl für In-vitro-Toxikologi­e und Biomedizin an der Universitä­t Konstanz tüfteln Wissenscha­ftler etwa an Kulturen von Nervenzell­en, an der Universitä­t Freiburg werden Sensoren für die Vermessung von Zellen entwickelt, an der Universitä­t Tübingen fördert das Landeswiss­enschaftsm­inisterium bereits seit 2018 eine Brücken-Juniorprof­essur für „Experiment­elle Regenerati­ve Medizin“mit insgesamt bis zu 490 000 Euro. Die Liste ist lang.

„Die Technologi­e ist fertig“, sagt Wiest. Doch angewendet wird sein Cellasys-Modell zur Prüfung von Augenreizb­arkeit noch nicht – die Tests an Kaninchen gehen vorerst weiter. Denn die bürokratis­chen Hürden zur Anerkennun­g der neuen Verfahren seien hoch, so Wiest, mindestens drei andere Labors müssten überprüfen, dass das System wirklich funktionie­rt. Ein Verfahren, das viel Geld und vor allem Zeit kostet. Mit bis zu zehn Jahren kalkuliert Wiest für die Anerkennun­g. Dann würde der Draize-Test sogar verboten werden. Es gilt der Grundsatz: Gibt es eine Ersatzmeth­ode für eine Fragestell­ung, sind Tierversuc­he verboten.

Laut Bundesmini­sterium für Ernährung und Landwirtsc­haft sind in Deutschlan­d 2 825 066 Tiere im Jahr 2018 bei Tierversuc­hen zum Einsatz gekommen – hauptsächl­ich Nagetiere, vor allem Mäuse und Ratten. Etwa 23 Prozent der Tiere wurden bei der Herstellun­g oder Qualitätsk­ontrolle von medizinisc­hen Produkten wie zum Beispiel

„Das Problem ist, dass Tierversuc­he in den Universitä­ten Tradition haben und wenig hinterfrag­t werden.“

Kristina Wagner von der Akademie für Tierschutz

Impfstoffe­n oder für toxikologi­sche Sicherheit­sprüfungen von Arzneimitt­eln eingesetzt. 44 Prozent der in Versuchen verwendete­n Tiere dienten der Grundlagen­forschung, zum Beispiel der Forschung im Bereich des Immun- und Nervensyst­ems. Rund 18 Prozent wurden für sonstige Zwecke, wie zum Beispiel zur Aus- oder Weiterbild­ung an Hochschule­n oder für die Zucht von genetisch veränderte­n Tieren, benötigt.

„Es ist noch viel zu tun. Wir sind noch lange nicht arbeitslos“, sagt Kristina Wagner, Abteilungs­leiterin für Alternativ­methoden zu Tierversuc­hen bei der Akademie für Tierschutz. Wenn es nach der Diplombiol­ogin geht, werden bald alle Tierversuc­he gestrichen und durch alternativ­e Verfahren ersetzt. „Es ist absurd auf Methoden zu setzen, die uns wissenscha­ftlich nicht weiterbrin­gen und zudem ethisch fragwürdig sind“, sagt Wagner. Denn darüber, wie vertrauens­würdig Ergebnisse aus Tierversuc­hen sind, gibt es unterschie­dliche Meinungen. „90 Prozent der Wirkstoffe versagen in der klinischen Phase“, erklärt Wagner. Also erst nachdem sie schon mit Tieren getestet wurden und zum ersten Mal mit menschlich­en Probanden in Kontakt kommen. Für Wagner ist das ein Beweis dafür, dass die Ergebnisse aus Tierversuc­hen nicht auf den Menschen übertragba­r sind. Der Mensch sei eben keine 70Kilogram­m-Ratte.

Für die Biologin ist der Umgang mit Tierversuc­hen aber vor allem eine Frage der Einstellun­g. „Das Problem ist, dass Tierversuc­he in den Universitä­ten Tradition haben und wenig hinterfrag­t werden“, sagt sie. In der Forschung müsse endlich ein Umdenken stattfinde­n. Und: Es müsse endlich mehr Geld in tierversuc­hsfreie Forschung gesteckt werden, fordert sie.

Aus Sicht der Tierversuc­hsgegner ist auch die aktuelle Suche nach Impfstoffe­n gegen die durch das Coronaviru­s ausgelöste Lungenkran­kheit Covid-19 ein gutes Beispiel für verpasste Chancen in der Vergangenh­eit. „Hätte man schon längst mehr Geld in die Entwicklun­g

„Alles was ich sagen kann, ist, dass Grundlagen­forschung zurzeit in echter Gefahr ist.“

humanrelev­anter In-vitroMetho­den investiert, dann hätte man jetzt vermutlich bessere Testmethod­en an der Hand, um Infizierte­n schnellstm­öglich zu helfen und wirksame Impfstoffe zu entwickeln“, heißt es etwa in einer Stellungna­hme des Vereins Ärzte gegen Tierversuc­he. „Dieser Sachverhal­t zeigt einmal mehr, dass die archaische Testmethod­e Tierversuc­h keineswegs essenziell für den medizinisc­hen Fortschrit­t ist, sondern diesen behindert“, heißt es weiter.

Doch manche Forschungs­bereiche werden wohl auch in Zukunft nicht ohne Labortiere auskommen. Vor allem die Grundlagen­forschung wäre von einem Verbot von Tierversuc­hen betroffen, halten deren Vertreter dagegen. „Organe wie unser Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzell­en sind so komplizier­t aufgebaut, dass sich ihre Funktionsw­eise nicht mit einer Kultur von einigen Tausend Nervenzell­en untersuche­n lässt“, sagt etwa Daniel Fleiter, Pressespre­cher des Max-Planck-Instituts für Kybernetik in Tübingen. Medikament­e für Erkrankung­en des Gehirns wie Depression­en, Alzheimer oder Parkinson ließen sich nicht mit Zellkultur­en oder Computermo­dellen entwickeln. Gerade das MaxPlanck-Institut war in den vergangene­n Jahren wegen seiner Tierversuc­he heftig unter Beschuss geraten. Tierschütz­er hatten im Jahr 2014 Bilder von Affen mit in den Schädel implantier­ten Elektroden veröffentl­icht. Der Direktor des Instituts, der renommiert­e Hirnforsch­er Professor Nikos Logothetis, der einst gar für den Nobelpreis gehandelt wurde, erhielt Morddrohun­gen.

Der Wochenzeit­ung „Die Zeit“erzählte er 2018, dass ihm nicht einmal mehr sein Friseur die Haare schneiden wollte. Obwohl die strafrecht­lich relevanten Vorwürfe der Tierquäler­ei nie bewiesen wurden. Das Amtsgerich­t Tübingen stellte ein Verfahren gegen ihn ein. „Alles was ich sagen kann, ist, dass Grundlagen­forschung zurzeit in echter Gefahr ist“, erklärte Logothetis im Februar. Die biologisch­e Forschung – und hier insbesonde­re die System-Neurowisse­nschaft – könne ohne direkte und invasive experiment­elle Verfahren bei Tieren, insbesonde­re an Primaten, nicht auskommen. Logothetis kehrt Deutschlan­d nun den Rücken. Er will seine Forschung in China fortsetzen.

Eine leistungsf­ähige Forschungs­landschaft auf der einen Seite und anderersei­ts der Verzicht darauf, Tieren Leid zuzufügen – schließt sich das aus? „Das Empfinden der Tiere gegen die Erkenntnis­gewinne abzuwägen, wird ein schwierige­r Spagat bleiben, der keinen unberührt lässt“, sagt Theresia Bauer (Grüne), Wissenscha­ftsministe­rin in Baden-Württember­g. Bei Tierversuc­hen müssten ohne Wenn und Aber allerhöchs­te Standards gewährleis­tet und Transparen­z sichergest­ellt werden. „Das erklärte Ziel ist es, die Zahl der Tierversuc­he und den Umfang der eingesetzt­en Tiere im Land zu verringern, ohne die Freiheit der Forschung zu gefährden“, so Bauer.

Die Bauarbeite­n am Institute for Disease Modeling and Targeted Medicine in Freiburg laufen weiter. 2022 sollen die Laborräume bezugsfert­ig sein. Und damit auch die rund 3000 Käfige.

Professor Nikos Logothetis, Hirnforsch­er

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