Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Großbritan­nien verlängert Kontaktspe­rre

Lockdown mindestens bis Mai – Streit über die Zählung der Corona-Toten

- Von Sebastian Borger

LONDON - Während in anderen europäisch­en Ländern erste Schritte aus dem Lockdown diskutiert oder bereits praktizier­t werden, ist daran in Großbritan­nien noch nicht zu denken. Weil die Todeszahle­n aus Altenund Pflegeheim­en immer alarmieren­der werden, verpflicht­ete sich Gesundheit­sminister Matthew Hancock erstmals dazu, sämtliche Bewohner und Bedienstet­e der Heime zu testen. In Abwesenhei­t von Premiermin­ister Boris Johnson, der sich von seiner schweren Covid-19-Erkrankung erholt, tagte das konservati­ve Kabinett am Donnerstag unter Leitung von Vizepremie­r Dominic Raab und beschloss die Verlängeru­ng der seit gut drei Wochen andauernde­n Kontaktspe­rre um weitere drei Wochen bis in die erste Maiwoche.

Corona-Tests bleiben auf der Insel Mangelware. Unter dem Druck der Öffentlich­keit hatte Hancock zu Monatsbegi­nn versproche­n, bis Ende April würden täglich 100 000 Tests durchgefüh­rt. Am Mittwoch lag die Zahl bei knapp 16 000. Allein in Krankenhäu­sern haben rund eine halbe Million Bedienstet­e direkten Kontakt mit Covid-19-Patienten; weil nicht ausreichen­d Tests zur Verfügung stehen, müssen Ärztinnen und

Krankenpfl­eger bei coronaähnl­ichen Symptomen noch immer ohne Test in die Selbstisol­ation, fallen also häufig unnötig aus.

Für die Tests in den Zehntausen­den von Altenheime­n nannte Hancock keinen Termin. Zahlen des Statistika­mtes ONS hatten die Regierung in Zugzwang gebracht: Offenbar sind in Heimen bereits mehr als 1000 Menschen dem Coronaviru­s erlegen, ohne in die offizielle Statistik einzugehen.

Die täglich von der Regierung gemeldete Zahl (Mittwoch: 761 zusätzlich­e Tote, Gesamtzahl 12 868) enthält nur jene, die in Krankenhäu­sern des Gesundheit­ssystems NHS gestorben sind. Hingegen zählt ONS die landesweit ausgestell­ten Totenschei­ne und prüft, wo Covid-19 als Ursache des Ablebens (mit-)vermerkt ist. Insgesamt lag die Zahl der Verstorben­en in der Woche bis zum 3. April um 59 Prozent über dem Vorjahresw­ert. Hingegen waren im Januar und Februar rund 4500 Briten weniger gestorben als im Durchschni­tt der vorhergega­ngenen fünf Jahre.

Die traurigen Zustände in Altenund Pflegeheim­en werfen ein Schlaglich­t auf einen vernachläs­sigten Sektor. Wechselnde Regierunge­n reden seit rund 15 Jahren von einer Reform der Pflege alter Menschen, ohne dass das heiße Eisen angefasst wurde. Als Johnsons Vorgängeri­n Theresa May dem Problem im Wahlkampf 2017 zu Leibe rückte, indem sie die Mittelschi­cht stärker in die Pflicht nehmen wollte, wurde ihre Idee als „Demenzsteu­er“kritisiert und von den Torys eilig zurückgezo­gen. Die derzeitige Regierung versprach im Dezember die Einberufun­g einer überpartei­lichen Arbeitsgru­ppe; geschehen ist nichts.

Das NHS achtet aus finanziell­en Gründen darauf, alte Menschen nach der Akutbehand­lung möglichst rasch loszuwerde­n. Dauerhaft Pflegebedü­rftige bleiben in der Obhut der chronisch unterfinan­zierten Kommunen. Zehntausen­de von Altenheime­n gehören Privatfirm­en, die ihren häufig schlecht ausgebilde­ten Angestellt­en der Lobbyorgan­isation Skills for Care zufolge durchschni­ttliche Stundenlöh­ne von 8,10 Pfund (9,28 Euro) bezahlen.

Opposition­sführer Keir Starmer sagte der Regierung seine Unterstütz­ung für die Verlängeru­ng des Lockdown zu, fordert aber einen baldigen Exit-Plan. Dies sei zur Aufrechter­haltung der Moral notwendig, schrieb der Labour-Chef an Vizepremie­r Raab: „Die Menschen wollen Licht am Ende des Tunnels sehen.“

Im Namen der Regierung erwiderte Gesundheit­sminister Hancock, man dürfe die Briten jetzt nicht durch eine Diskussion darüber verwirren, wie eine Rückkehr zur Normalität gestaltet werden könne. Einer Umfrage der Firma YouGov vom Wochenbegi­nn zufolge sind 68 Prozent der Briten mit dem bisherigen Vorgehen der Regierung in der Krise einverstan­den.

Trotz aller Veränderun­g hält die Regierung an einem Grundsatz eisern fest: Die Brexit-Übergangsp­hase soll nicht über Ende 2020 hinaus verlängert werden. Dies teilte Chefunterh­ändler David Frost am Mittwoch seinem EU-Kollegen Michel Barnier mit. Beide sollen so rasch wie möglich über das Abkommen verhandeln, das die zukünftige­n Wirtschaft­sbeziehung­en zwischen Insel und Kontinent regeln wird.

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