Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Großbritannien verlängert Kontaktsperre
Lockdown mindestens bis Mai – Streit über die Zählung der Corona-Toten
LONDON - Während in anderen europäischen Ländern erste Schritte aus dem Lockdown diskutiert oder bereits praktiziert werden, ist daran in Großbritannien noch nicht zu denken. Weil die Todeszahlen aus Altenund Pflegeheimen immer alarmierender werden, verpflichtete sich Gesundheitsminister Matthew Hancock erstmals dazu, sämtliche Bewohner und Bedienstete der Heime zu testen. In Abwesenheit von Premierminister Boris Johnson, der sich von seiner schweren Covid-19-Erkrankung erholt, tagte das konservative Kabinett am Donnerstag unter Leitung von Vizepremier Dominic Raab und beschloss die Verlängerung der seit gut drei Wochen andauernden Kontaktsperre um weitere drei Wochen bis in die erste Maiwoche.
Corona-Tests bleiben auf der Insel Mangelware. Unter dem Druck der Öffentlichkeit hatte Hancock zu Monatsbeginn versprochen, bis Ende April würden täglich 100 000 Tests durchgeführt. Am Mittwoch lag die Zahl bei knapp 16 000. Allein in Krankenhäusern haben rund eine halbe Million Bedienstete direkten Kontakt mit Covid-19-Patienten; weil nicht ausreichend Tests zur Verfügung stehen, müssen Ärztinnen und
Krankenpfleger bei coronaähnlichen Symptomen noch immer ohne Test in die Selbstisolation, fallen also häufig unnötig aus.
Für die Tests in den Zehntausenden von Altenheimen nannte Hancock keinen Termin. Zahlen des Statistikamtes ONS hatten die Regierung in Zugzwang gebracht: Offenbar sind in Heimen bereits mehr als 1000 Menschen dem Coronavirus erlegen, ohne in die offizielle Statistik einzugehen.
Die täglich von der Regierung gemeldete Zahl (Mittwoch: 761 zusätzliche Tote, Gesamtzahl 12 868) enthält nur jene, die in Krankenhäusern des Gesundheitssystems NHS gestorben sind. Hingegen zählt ONS die landesweit ausgestellten Totenscheine und prüft, wo Covid-19 als Ursache des Ablebens (mit-)vermerkt ist. Insgesamt lag die Zahl der Verstorbenen in der Woche bis zum 3. April um 59 Prozent über dem Vorjahreswert. Hingegen waren im Januar und Februar rund 4500 Briten weniger gestorben als im Durchschnitt der vorhergegangenen fünf Jahre.
Die traurigen Zustände in Altenund Pflegeheimen werfen ein Schlaglicht auf einen vernachlässigten Sektor. Wechselnde Regierungen reden seit rund 15 Jahren von einer Reform der Pflege alter Menschen, ohne dass das heiße Eisen angefasst wurde. Als Johnsons Vorgängerin Theresa May dem Problem im Wahlkampf 2017 zu Leibe rückte, indem sie die Mittelschicht stärker in die Pflicht nehmen wollte, wurde ihre Idee als „Demenzsteuer“kritisiert und von den Torys eilig zurückgezogen. Die derzeitige Regierung versprach im Dezember die Einberufung einer überparteilichen Arbeitsgruppe; geschehen ist nichts.
Das NHS achtet aus finanziellen Gründen darauf, alte Menschen nach der Akutbehandlung möglichst rasch loszuwerden. Dauerhaft Pflegebedürftige bleiben in der Obhut der chronisch unterfinanzierten Kommunen. Zehntausende von Altenheimen gehören Privatfirmen, die ihren häufig schlecht ausgebildeten Angestellten der Lobbyorganisation Skills for Care zufolge durchschnittliche Stundenlöhne von 8,10 Pfund (9,28 Euro) bezahlen.
Oppositionsführer Keir Starmer sagte der Regierung seine Unterstützung für die Verlängerung des Lockdown zu, fordert aber einen baldigen Exit-Plan. Dies sei zur Aufrechterhaltung der Moral notwendig, schrieb der Labour-Chef an Vizepremier Raab: „Die Menschen wollen Licht am Ende des Tunnels sehen.“
Im Namen der Regierung erwiderte Gesundheitsminister Hancock, man dürfe die Briten jetzt nicht durch eine Diskussion darüber verwirren, wie eine Rückkehr zur Normalität gestaltet werden könne. Einer Umfrage der Firma YouGov vom Wochenbeginn zufolge sind 68 Prozent der Briten mit dem bisherigen Vorgehen der Regierung in der Krise einverstanden.
Trotz aller Veränderung hält die Regierung an einem Grundsatz eisern fest: Die Brexit-Übergangsphase soll nicht über Ende 2020 hinaus verlängert werden. Dies teilte Chefunterhändler David Frost am Mittwoch seinem EU-Kollegen Michel Barnier mit. Beide sollen so rasch wie möglich über das Abkommen verhandeln, das die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Insel und Kontinent regeln wird.